7.36 Uhr. Die Sonne geht auf. Rosenthaler Platz, Ecke Brunnenstraße/Weinbergsweg. Zwei Pärchen reden über die Nacht. Feiern. Alkohol. Drogen. Darüber, dass es Zeit ist, schlafen zu gehen. Darüber, dass sie noch gerne "aftern", also weiterfeiern würden. Sie verabschieden sich an einer Ampel. An meiner Ampel.
Meine Ampel. Darf ich kurz vorstellen: 2,10 Meter ist sie hoch, der Norm entsprechend. So wie fast alle Ampeln an Gehwegen in Deutschland. Sticker zieren sie wie Orden. Sechs zerrissene FDP-Aufkleber "Bauen statt klauen". Dreimal Fridays for Future. Zerrissen. Ein Anti-Polizei-Sticker mit der Aufschrift "Kein Freund. Kein Helfer." Auch zerrissen. Meine Ampel, sie ist eindeutig politisch.
Die Ampel überhaupt: das politische Symbol dieser Tage. Denn jetzt wird sie wohl kommen, auf Bundesebene. Premiere! Und gleichzeitig regelt sie weiter x-tausendfach und sekündlich den Verkehr, das deutscheste aller Verkehrssignale. Ihren Befehlen folgen SUVs (Freiheit!) wie Lastenräder (Verantwortung!), sie bringt Punks wie Banker zum Innehalten, auch hier, in Berlin-Mitte, wo ich jetzt mal einen Tag stehen werde, mindestens 13 Stunden lang, von Sonnenaufgang bis nach Sonnenuntergang, weil es einfach ein guter Moment ist, sich so eine Ampel genauer anzusehen. Passiert sonst viel zu selten.
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Über mir klackert wie ein Metronom ein Lautsprecher für Blinde. An dem Lautsprecher hängt ein Fahrradschloss. Warum das Fahrradschloss da hängt: ein Mysterium. Unter dem Lautsprecher ein Knopf, den man drücken soll, wenn man über die Straße will, den aber niemand drückt. Funktioniert er überhaupt?
Die Ampel. Sie ist keine Schönheit. Bisschen abgerockt. Und doch: Liebe auf den ersten Blick. Sie ist eine Charakter-Ampel. Eine Linksabbieger-Ampel mit leuchtenden Pfeilen und Geschichte. Eine Ampel mit attitude.
Was der Tag an der Ampel bringen wird, weiß ich nicht. Ob ich heute auf Politiker oder einen Star treffen werde? Anton Hofreiter, und Maxim Biller sollen in der Nähe wohnen. So ein Gerücht.
Ich zähle SUVs wie Schafe vor dem Zubettgehen. Ein weißer. Ein silberner. Ein schwarzer. Ein schwarzer Mercedes-SUV. Ein weißer. Ein silberner. Sechs SUVs in zwei Minuten.
3,4 Kilometer von hier zum Kanzleramt.
Ich lehne mich an meine Ampel. Schließe meine Augen. Träume, wie Brad Pitt, Anton und Maxim Biller in einer WG wohnen und jeden Morgen aneinander vorbeireden. Hofreiter über Tempo 130. Biller über Czollek. Brad Pitt über Brad Pitt.
Die Ampel schaltet auf Rot. Drei Fahrradpolizisten halten an meiner Ampel. Gänsehaut. Atemnot. Ich muss daran denken, wie mich die Münchner an einer Ampel anhielt, ich im Auto. Ich hatte in einer Rotphase auf meinem Handy Google Maps geöffnet. Hauptbahnhof. Parkplatz. Dann kam die Polizei: ein Blick auf meinen deutschen Pass. Geburtsort: Uspenka, Kasachstan. 100 Euro Strafe. Als Bonus ein Kommentar: "Bei uns in Deutschland macht man das aber nicht." Unbezahlbar. Dabei gibt es in Uspenka gar keine Ampeln. Nur die Straßenverkehrsordnung. Rechts vor links. Meine Ampel schaltet auf Grün. Die Polizei zieht weiter. Ich atme aus.
Zehn Meter weiter hält ein Lieferwagen. Drei Männer steigen aus, um Getränkekisten in ein Café zu liefern. Ein Jogger erreicht meine Ampel. Hält an. Schaut sich um. Läuft weiter. Dann noch ein Jogger. Noch einer. Noch einer. Noch einer. Und noch einer. 9.43 Uhr. Sie machen keine Übungen, traben nicht auf der Stelle, pausieren einfach, einer checkt seine Smartwatch. Ein anderer lehnt sich an meine Ampel. Pause. Atempause.