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Rumänische Revolution: Der Aufstand

ZEITmagazin: Herr Kerpenisan, vor 30 Jahren waren Sie in und fotografierten den Beginn der Revolution, die die kommunistischen Machthaber stürzte. Wir zeigen die Bilder, sie wurden noch nie veröffentlicht. Was haben Sie damals erlebt?

Dobrivoie Kerpenisan

53, geboren in Lovrin, Rumänien, ist Regisseur und Fotograf. Er lebt in Düsseldorf. Seine Dokumentation Die unbekannten Helden - Bilder der rumänischen Revolution wird am 15. Dezember um 23.55 Uhr im MDR ausgestrahlt. Seine Fotos werden gerade in New York gezeigt, nächstes Jahr in Berlin, Paris und Brüssel.

Dobrivoie Kerpenisan: Als ich am 20. Dezember 1989 in Timişoara ankam, demonstrierten Tausende im Zentrum der Stadt auf dem Opernplatz. Die Revolution war ein paar Tage zuvor hier ausgebrochen. Ich schloss mich ihnen an und machte spontan Fotos, bis Schüsse fielen. Menschen wurden getroffen. Niemand wusste, woher die Schüsse kamen, es entstand große Verwirrung.

ZEITmagazin: Sie gerieten selbst in Gefahr?

Kerpenisan: Ja, schon. Man schoss von umliegenden Gebäuden in die Menge, aus Wohnungen oder dem Hotel Timişoara. Einige Demonstranten stürmten in umliegende Gebäude, um die Schützen ausfindig zu machen. Die Energie der Leute hat mich mitgerissen, und ich bin einfach hinterher. Es stellte sich heraus, es war die Geheimpolizei Securitate, einige Angehörige der Armee erwiderten das Feuer. Ich fotografierte auch Leichen, die an der Lipovei-Straße offenbar nach einer heimlichen Obduktion im Krankenhaus in einem Massengrab verscharrt worden waren.

ZEITmagazin: Die Revolution dauerte nur eine Woche, in den Wirren starben über 1.000 Menschen. Am 25. Dezember wurde der rumänische Diktator Nicolae Ceauşescu exekutiert. Auf einem Teil Ihrer Fotos ist auch ein Dorf zu sehen. Welches Dorf ist das?

Kerpenisan: Das ist Sanpetru Mare, nicht weit von Timişoara entfernt. Dort lebten meine Großeltern, ich war über Weihnachten bei ihnen zu Besuch. Im Dorf hatte man gerade von den Ereignissen in Timişoara gehört. Pendler aus den dortigen Fabriken, die am Wochenende aufs Land zurückkehrten, hatten berichtet, was vor sich ging. Die Leute waren verängstigt und irritiert, bald schlug das in Wut um. Sie holten Ceauşescus Porträts aus der Polizeistation und dem Rathaus, verbrannten sie und riefen: "Nieder mit Ceauşescu! Wir wollen Demokratie!"

ZEITmagazin: Hatte sich der Umsturz angekündigt?

Kerpenisan: Niemand konnte sich vorstellen, dass dieses System irgendwann an ein Ende kommen würde. Das war in vielen Ostblockstaaten so. Die Leute haben sich gegenüber der Regierung völlig machtlos gefühlt. Überwachung und Angst vor Denunziation waren an der Tagesordnung. Man sagte in Rumänien immer, dass einer von dreien ein Spitzel war. Was die Revolution dann entfachte, war, dass es an allen Ecken und Enden am Nötigsten fehlte. Die Menschen waren sehr arm. Es gab kein warmes Wasser und nicht einmal Strom. Selbst die Grundnahrungsmittel waren knapp, denn die gingen in den Export. Noch heute halten einige es Ceauşescu zugute, dass er es so als einziger Ostblock-Diktator geschafft hat, seine Schulden zurückzuzahlen. Bei der Revolution eine Rolle gespielt hat auch die Berichterstattung aus dem Westen über die Veränderungen in den osteuropäischen Ländern, unter anderem über den Fall der Mauer in Berlin.

ZEITmagazin: Sie lebten damals bereits in Deutschland. Wie kam es dazu, dass Sie 1974 im Alter von acht Jahren in die Bundesrepublik ausgewandert sind?

Kerpenisan: Mein Vater war zwei Jahre zuvor geflüchtet. Er hat uns freigekauft, und das Geld ging wohl in Ceauşescus Devisenkasse. So bekamen meine Mutter und ich Ausreisepapiere. Das war sozusagen eine erkaufte Familienzusammenführung. Wir zogen erst mal nach Leverkusen. 1989 studierte ich gerade an der Folkwang-Universität in Essen.

ZEITmagazin: Vor Kurzem haben Sie einen Dokumentarfilm über diese Zeit gedreht, Die unbekannten Helden. Er kommt jetzt ins Fernsehen. Haben die Leute Sie beeindruckt?

Kerpenisan: Eine meiner Heldinnen war damals 19 Jahre alt, sie heißt Adriana und arbeitete in einer Fabrik in Timişoara. Sie hatte ein zweijähriges Kind, das sie bei ihren Eltern in Sanpetru Mare ließ. Als die Revolution am 16. Dezember begann, kam sie aus Furcht vor dem, was sie in Timişoara erlebt hatte, und aus Angst um ihr Kind zurück nach Sanpetru Mare. Sie ging zu der rumänischen, der deutschen und der serbischen Kirche und bat die Priester, die Glocken zu läuten. Die Bevölkerung kam dann in der Dorfmitte zusammen. Die junge Frau erzählte, was in Timişoara geschehen war. Von dem Moment an begehrte das Dorf auf.

ZEITmagazin: Auch heute sind Sie noch häufig in Rumänien. Wie geht es den Menschen dort?

Kerpenisan: Sehr unterschiedlich. Viele haben den Traum von Demokratie und Freiheit durch Konsum und grenzenlosen Kapitalismus ersetzt. Da an den Machtstrukturen direkt nach dem Wandel nicht viel verändert wurde, gab es auch nach der Revolution weiterhin Korruption und Vetternwirtschaft. Aber diesmal furchtloser als zuvor. Heute tritt der Unterschied zwischen Arm und Reich viel deutlicher hervor, und viele wandern aus. Schätzungsweise haben bereits über sechs Millionen Rumänen ihr Land verlassen.

ZEITmagazin: Warum haben Sie Ihre Fotos nicht früher veröffentlicht?

Kerpenisan: Ich präsentierte sie Ende Januar 1990 als Semesterarbeit an der Universität, und meine Professorin fragte erstaunt, warum sie die Arbeit nicht in den Medien gesehen habe. Ich solle das unbedingt international veröffentlichen - aber dafür war es schon zu spät. Als Kunststudent kannte ich damals die Mechanismen der Verwertung im Bildjournalismus nicht. Wenn ich mir die Fotos heute anschaue, kommt die jugendliche Begeisterung sofort zurück. Hätte ich das alles nicht erlebt, ich wäre heute nicht Dokumentarfilmer.

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