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Umstrittene Gentests - Wie die Medizin Nebenwirkungen abschätzen kann

Kein Mensch gleicht dem anderen. Diese zugegebenermaßen nicht neue Erkenntnis gilt auch für den Stoffwechsel. Gentests können helfen, die Wirksamkeit von Medikamenten und die Wahrscheinlichkeit unerwünschter Nebenwirkungen einzuschätzen. Diese Tests werden als selbst zu zahlende Gesundheitsleistung (IGeL) für dreistellige Eurobeträge angeboten. In der Fachwelt sind sie umstritten.

Die Idee hinter den angebotenen Tests ist grundsätzlich bestechend: Menschen verarbeiten Medikamente nun mal sehr unterschiedlich. Manche haben ein sehr aktives Enzymsystem und bauen Arzneistoffe viel effektiver ab als der Durchschnitts-Pillenschlucker. Experten nennen solche Turbo-Stoffwechsler "Ultra Rapid Metabolizer". Um einen therapeutischen Effekt zu erreichen, benötigen diese Menschen höhere Medikamentendosen als empfohlen. Mitunter können sie einen Wirkstoff so schnell wieder abbauen, dass dieser komplett wirkungslos bleibt.

So genannte "Poor Metabolizer", Menschen mit einem langsamen Medikamentenabbau, erreichen dagegen auch mit geringen Wirkstoffdosen höhere Wirkstoffspiegel im Blut. Ihr Problem: Bei ihnen können verstärkt Nebenwirkungen auftreten, weil sie einen Wirkstoff in gefährlich hoher Konzentration und für lange Zeit im Körper halten. Weniger ausgeprägt ist dieser Effekt bei Menschen mit einer reduzierten Enzymaktivität ("Intermediate Metabolizer"), sie spüren jedoch deutliche Nebenwirkungen. Keine großen Überraschungen sollten Patienten mit normaler Enzymaktivität ("Extensive Metabolizer") erleben.

So weit die Theorie - und nun die Frage, die sich viele Patienten stellen werden: In welche Gruppe gehöre ich? Bei der Suche nach einer Antwort kommen unweigerlich die Gene ins Spiel: Wissenschaftler haben unzählige Gene beschrieben, die einen Einfluss auf die Wirksamkeit von Medikamenten haben. "Wir meinen immer, ein Arzneimittel schluckt man, und es kommt von selbst an seinen Wirkort", sagt der Pharmazeut Prof. Theodor Dingermann von der Universität Frankfurt am Main. "Aber auf dem Weg dahin - und wieder raus aus dem Körper - interagiert so ein Wirkstoff mit zig Proteinen, die bei verschiedenen Menschen unterschiedlich ausgeprägt sind." Ein Gentest, mit dem sich die Eigenschaften der beteiligten Transportproteine abschätzen lassen, habe daher Sinn.

Solche Tests müssen jedoch unterschieden werden von Gentests, bei denen direkt die Eigenschaften der Krankheit - bei Krebszellen etwa - untersucht werden, um zu wissen, ob bestimmte Medikamente wirken können oder nicht: Die Transportproteine haben mit der eigentlichen Krankheit gar nichts zu tun. Für die Wirksamkeit einer Therapie können sie aber entscheidend sein: Wenn sie einen bestimmten Wirkstoff nicht in eine Zelle schleusen, bleibt dieser unwirksam.

Insgesamt wird sich Dingermann zufolge die Art, wie Medikamente in Zukunft verordnet werden, wandeln: weg von der Behandlung einer Krankheit mit Wirkstoff x oder y hin zur Behandlung von Patienten mit einer ganz bestimmten Ausstattung an Transport-, Entgiftungs- oder Inaktivierungsenzymen. "Wir müssen nicht nur die Krankheit diagnostizieren, wir müssen auch diagnostizieren, ob der Patient von diesem oder jenem Arzneimittel profitiert."

Ins gleiche Horn stoßen auch wissenschaftliche Fachgesellschaften: Arzneimittelbezogene Gentests bieten nach Ansicht der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG) die Möglichkeit, die Arzneimitteltherapie zu optimieren. Die Ergebnisse solcher Gentests seien kein Schicksalsschlag wie die Entdeckung von Risikogenen für eine bestimmte, eventuell unheilbare Krankheit. Da es eine große Bandbreite an Arzneimitteln gibt, kann der Patient den Angaben zufolge alternative Wirkstoffe einsetzen, oder es muss die Dosis des Wirkstoffes angepasst werden.

Dass die Verstoffwechselung vieler Medikamente von der genetischen Ausstattung der Patienten beeinflusst wird, ist unstrittig. Allerdings: Hat das tatsächlich praktische Bedeutung? Die industrieunabhängige, pharmakritische Fachzeitschrift "Gute Pillen - Schlechte Pillen" bezweifelt das: "Vermutlich ist bei vielen Medikamenten die "therapeutische Breite" ausreichend groß, dass mögliche genetische Unterschiede im Stoffwechsel für die Wirksamkeit und das Auftreten unerwünschter Effekte nur nachrangig bedeutsam sind", heißt es in dem Blatt (Ausgabe 02/2014).

Und auch um die für einen Patienten optimale Dosis zu bestimmen, sei nicht unbedingt ein Gentest notwendig: Wenn es tatsächlich auf die exakte Dosierung ankommt, könnten Ärzte diese wie bisher durch Messen des Wirkstoffspiegels im Blut einstellen. Das lasse sich unkompliziert - und für den Patienten kostenfrei - durchführen. Gentests böten hier keinen Ersatz.

Theodor Dingermann dagegen kann den angebotenen Tests auch jetzt schon Nutzen abgewinnen: "Ich habe einen Zettel in der Tasche. Wenn mich nach einem Schlaganfall einer findet, weiß der Arzt, mit welchem Gerinnungshemmer er mich behandeln darf und womit nicht."

geschrieben für: dpa-Themendienst, Juni 2014

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