Der kolumbianische Präsident zieht seine Steuerreform zurück, doch die Proteste gehen weiter. Ein Mitorganisator erklärt, warum er die Angebote für unglaubwürdig hält.
Nach tagelangen Protesten, mehreren Toten und Verletzten hat Kolumbiens Präsident Iván Duque seine umstrittene Steuerreform zurückgenommen. Doch die jungen Menschen protestieren weiter. Der Mitorganisator Diego Gutierrez erzählt, warum die Demonstrierenden der Regierung nicht vertrauen.
ZEIT ONLINE: Diego, die Proteste in Cali dauern nun rund zwei Wochen an. Was hält die Menschen auf der Straße?
Diego Gutierrez: Viele Menschen sind einfach wütend. Wenn eine Familie mit einem Kind von gut 900.000 Pesos (rund 240 Euro) leben muss und nun mitten in der Pandemie die Grundnahrungsmittel einen höheren Mehrwertsteuersatz bekommen sollen, dann bedeutet das für viele Menschen, eine Mahlzeit weniger am Tag zu essen. Die Steuerreform hat Präsident Iván Duque zwar zurückgezogen. Jetzt plant er aber eine neue, an der die gleichen Experten und Regierungsmitglieder mitwirken sollen.
Während das Ei, die Proteinquelle der Armen, zukünftig deutlich mehr kosten soll, ist eine Mehrwertsteuer für Softdrinks nicht mal im Gespräch. Denn Softdrinkhersteller sind hier mit der Politik verbandelt. Da werden Gefallen getan, wo es eben geht. Nur nicht für die Menschen, die es brauchen. Die Arbeiterklasse soll durch Steuererhöhungen das Geld reinspielen, das korrupte Politiker sich dann stehlen.
Newsletter
"Was jetzt?" - Der tägliche MorgenüberblickStarten Sie mit unserem sehr kurzen Nachrichten-Newsletter in den Tag - von Montag bis Samstag.
Prüfen Sie Ihr Postfach und bestätigen Sie das Newsletter-Abonnement.
Dem Newsletter-Abonnement geht eine Registrierung voraus. Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzbestimmungen zur Kenntnis.
ZEIT ONLINE: Es sind insbesondere junge Menschen, die die Proteste aufrechterhalten, obwohl sie meist nicht die Gruppe sind, die am stärksten von den Reformen betroffen wäre. Wieso ist das so?
Gutierrez: Ich glaube, da müssen wir unterscheiden. Es gibt eine Gruppe von marginalisierten Jugendlichen, die von den vorgelegten Reformen, sei es der Steuerreform oder der Gesundheitsreform negativ betroffen wären. Das sind junge Menschen, die zu den unteren Schichten des Landes zählen, die ihre Familien unterstützen, mit dem wenigen Geld, das sie dazuverdienen. Sie haben nichts mehr zu verlieren. Häufig bekommen sie bei den Protesten mehr zu essen als zu Hause. Die meisten von ihnen sind in der "Ersten Linie" organisiert, also der Gruppe an Demonstrierenden, die an den Barrikaden der Sicherheitseinheit Esmad und der Polizei entgegentritt.
Die andere Gruppe, der auch ich angehöre, sind Studierende, Künstler und einige Akademiker, die bereits arbeiten. In Cali gibt es eine große Kunst- und Musikszene, die traditionell immer politisch war und sich gegen soziale Ungleichheit starkgemacht hat. Das erklärt auch, warum die Proteste hier am stärksten sind.
"Ich hatte einen Kommilitonen, der nach zwei Tagen ohne Nahrung in der Vorlesung zusammengebrochen ist. Wir haben ihm dann zusammen mit einem Professor Mittagessen gekauft." Diego Gutierrez, Mitorganisator der Proteste in Kolumbien
ZEIT ONLINE: Du hast selbst vor einigen Jahren noch studiert. Wie schwer ist der Zugang zu höherer Bildung in ?
Gutierrez: Das Semester an einer öffentlichen Uni kostet 3,5 Millionen Pesos (rund 780 Euro). Aber in Kolumbien lebt etwa die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Die können sich diese Gebühr nicht leisten. Und selbst von denen, die sich immatrikulieren, geraten viele während der Studienzeit in prekäre Situationen. Ich hatte einen Kommilitonen, der nach zwei Tagen ohne Nahrung in der Vorlesung zusammengebrochen ist. Wir haben ihm dann zusammen mit einem Professor Mittagessen gekauft. So eine Situation ist kein Einzelfall.
ZEIT ONLINE: Nach Dialogen mit Jugendlichen am Mittwoch hat Präsident Iván Duque angekündigt, einen "großen Pakt für die Jugend" zu verabschieden. Unter anderem soll Bildung dann vorübergehend kostenlos sein. Geht er damit nicht auf einige Forderungen der Demonstrierenden ein?
Gutierrez: Das ist nicht das erste Mal, das wir diese Versprechen hören. Vor einigen Jahren sollte bereits ein Gesetz verabschiedet werden, nach dem Bildung für die ärmeren Schichten vollständig kostenfrei würde. Aber was versprochen wird, und was nachher umgesetzt wird, ist oft nicht dasselbe. Ich persönlich denke, dass die Regierung gar kein Interesse daran hat, bessere Bildung für die Armen zu schaffen. Denn ein ungebildetes Volk in Not kann man besser kontrollieren.