Die grassierende Aufteilung der Konsumwelt in Produkte für Jungs und Mädchen, für Frauen und Männer ist derzeit ein viel diskutiertes Thema. Längst nicht mehr nur Spielzeug und Kleidung, auch Bratwürste und Chips, Matheaufgaben und Überraschungseier werden inzwischen geschlechtsspezifisch vermarktet. Viele sehen darin einen Backlash, einen Rückschritt in Sachen Gleichberechtigung.
Mich nervt das Ganze auch, aber ich glaube nicht, dass es sich bloß um einen Rückschritt handelt. Ja, Mädchen und Jungen sind vor dreißig Jahren weniger stereotypisiert dargestellt worden als heute. Aber der Preis für diese „Gleichheit" der Geschlechter war die Unsichtbarmachung von Weiblichkeit. Der „normale" Mensch war damals männlich. Frauen und Mädchen konnten sich zwar „emanzipieren" - aber nur, wenn sie keinen Wert darauf legten, auch als Frauen und Mädchen sichtbar zu sein. Oder der Tatsache, dass sie welche waren, irgendeine Bedeutung zu geben.
Seither hat sich das Menschenbild diversifiziert, und die leidigen Männer- und Frauenbratwürste, so belämmert sie sein mögen, sind dafür ein Zeichen. Denn sie machen immerhin sichtbar, dass es nicht nur männliche Menschen gibt, sondern auch weibliche. Zugegeben, die Art und Weise, wie das abläuft, ist holprig und hat enorme Schattenseiten. Doch statt lediglich diese negativen Aspekte anzuprangern, schlage ich vor, zu überlegen, wie es in einem guten Sinne weiter entwickelt werden könnte.
Die Diversifizierung des Menschenbildes vollzieht sich nämlich nicht nur entlang der Geschlechterdifferenz, sondern auch entlang anderer demografischer Merkmale wie dem Alter oder der Religion, der sexuellen Identität, der Körperformen und so weiter. Bei allen diesen Aspekten gibt es ein starkes Bedürfnis der bislang Unsichtbaren, der ehemals Marginalisierten, endlich gesehen und in ihrer Differenz anerkannt zu werden. Sie wollen in der Öffentlichkeit präsent sein, benannt und berücksichtigt werden. Dicke Menschen stellen Fotos von sich ins Internet und bloggen über ihre Körpererfahrungen, Musliminnen tragen häufiger als früher Kopftücher, alte Menschen verheimlichen nicht mehr ihr Alter, Schwule und Lesben heiraten und feiern ihre Liebe öffentlich.
Die Gefahr, dass eine solchermaßen sichtbare Diversität in Klischees abdriftet und sich dabei neue Normen herausbilden, besteht bei all diesen Themen. Das liegt aber nicht daran, dass über diese Unterschiede gesprochen wird, sondern daran, dass wir aufgrund unseres lang etablierten universalistischen Weltbildes kein kulturelles Instrumentarium für den Umgang mit Differenz zur Verfügung haben. Alles, was uns im Angesicht von Vielfalt einfällt, sind Schubladen: die Fülle muss gleich wieder sortiert und somit gezähmt werden.
Dieser Drang, die Welt durch Klassifizierung und Sortierung einzuhegen, ist typisch für das westliche, universalistische Denken. Doch diese Herangehensweise ist völlig ungeeignet, um Differenz freiheitlich zu verstehen und zu denken. Denn alle empirischen, beobachtbaren Unterschiede gerinnen sofort wieder zu Kategorien, die dann zum Beispiel einzelnen Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe normativ übergestülpt werden. Was uns fehlt, ist eine Kulturtechnik, die aus der Fülle, die die Bewusstwerdung von Unterschieden zum Vorschein bringt, im Gegenteil mehr Optionen und Möglichkeiten für die Einzelnen gewinnt.
Vor einiger Zeit habe ich einen Reiseveranstalter beim Erstellen eines Programms beraten und stolperte dabei über die Altersangaben. Da wurde etwa eine Kulturreise nach Rom für Menschen „Sechzig Plus" beworben, eine Wandertour auf den Kanaren für unter Fünfzigjährige und so weiter. Auf meine Frage, was diese Altersvorgaben sollen, erfuhr ich, dass es häufig zu Konflikten zwischen älteren und jüngeren Reiseteilnehmerinnen und -teilnehmern gekommen sei. Die Älteren wollten in Rom Kirchen besichtigen, die Jüngeren nicht, bei der Kraterwanderung ging es den einen nicht schnell genug voran, während die anderen nicht mehr mitkamen. Um Enttäuschungen zu vermeiden, habe man deshalb Altersgrenzen eingeführt.
Das war gut gemeint, aber schlecht umgesetzt. Denn es besichtigen eben nicht alle Über-Fünfzigjährigen gerne Kirchen, und nicht jede Vierzigjährige schafft locker eine Zwanzig-Kilometer-Wanderung. Sicher gibt es statistische Korrelationen zwischen bestimmten Interessen oder Fähigkeiten und dem Alter, und dasselbe gilt für andere demografische Merkmale wie Geschlecht, Religion, sexuelle Orientierung und so weiter. Aber daraus können eben nicht - wie in diesem Reiseprogramm - umgekehrt Rückschlüsse auf einzelne Menschen gezogen werden. Statt starrer Altersgrenzen, so riet ich meinem Kunden, sollte er besser die einzelnen Reisen möglichst konkret erläutern: „Bei diesen drei Tagen in Rom werden zwanzig Kirchen besichtigt". Oder: „An dieser Reise kann nur teilnehmen, wer fit genug ist, um zwanzig Kilometer am Tag zu wandern".
Die Kunst besteht darin, Zugehörigkeit nicht mit Identität zu verwechseln. Wir müssen ins kollektive Bewusstsein bringen, dass sich aus der Zugehörigkeit eines Menschen zu einer bestimmten Gruppe - den Frauen oder den Männern, den Alten oder den Jungen und so weiter - rein gar nichts über diesen Menschen schlussfolgern lässt. Dass viele Muslime keinen Alkohol trinken, bedeutet eben nicht, dass der muslimische Gast auf meiner Party ebenfalls keinen Alkohol trinkt. Und auch wenn statistisch gesehen weniger Frauen als Männer ihren Status über die PS-Zahl ihres Autos definieren, kann ein fetter Dienstwagen genau das Richtige sein, um eine bestimmte Mitarbeiterin im Betrieb zu halten.
Dass wir uns zu Recht gegen stereotype Zuschreibungen aufgrund von Geschlecht, Alter, kulturellem Hintergrund und so weiter wehren, darf jedoch nicht dazu führen, die gewonnene Sensibilität für Differenzen wieder aufzugeben und zum universalistischen Mantra zurückzukehren, wonach „alle Menschen gleich" wären. Nein, das sind sie nicht. Es gibt Unterschiede zwischen Frauen und Männern, zwischen Alten und Jungen, zwischen verschiedenen Kulturen, Lebensformen und so weiter. Und es ist gut, wenn diese Unterschiede sichtbar sind, wenn über sie gesprochen wird, wenn sie Teil unseres kulturellen Selbstverständnisses werden, und wenn wir darauf achten, dass möglichst viele unterschiedliche Erfahrungshintergründe und Perspektiven bei der Gestaltung der Welt berücksichtigt und beteiligt werden. Anstatt wie früher eine bestimmte demografische Gruppe von Menschen für „normal" und maßgeblich zu halten und alle anderen an ihnen zu messen und ihren Vorlieben und Interessen unterzuordnen.
Und wenn wir gelernt haben, aus Unterschieden keine Schubladen zu machen, könnte eine wirklich pluralistische Fülle von Optionen entstehen: mehr Auswahl, mehr Anregung, mehr Freiheit für alle.
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