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Angela-Merkel-Double: "Frau Merkel hat viel geleistet. Ich aber auch"

Vor zwei Jahrzehnten hätte ich mir nie vorstellen können, mal als mächtigste Frau der Welt zu arbeiten. Doch dann passierte etwas: Menschen auf der Straße verwechselten mich mit Frau Merkel. Und eines Tages saß mein damals sechsjähriger Enkel mit meiner Tochter im Auto. Sie fuhren an einem Wahlplakat mit Frau Merkel in einem orangefarbenen Blazer vorbei, es war gerade Wahlkampf. Mein Enkel erblickte das Plakat und schrie: "Da ist ja Oma auf dem Plakat!" Beim nächsten Fasching zog ich einen Blazer an und verkleidete mich als Frau Merkel. Freunde scherzten, dass ich mich doch als Double bewerben könnte. Also schickte ich das Foto im Karnevalsoutfit an eine Doubleagentur. Ich wurde angenommen.

Eigentlich bin ich Lehrerin für Polnisch. Aber als ich 1985 als Spätaussiedlerin aus Polen nach Deutschland kam, wurde mein Studium zwar anerkannt, aber es gab keine Möglichkeit zu unterrichten. Also machte ich eine Ausbildung zur Steuerfachangestellten und arbeitete in einer Kanzlei. 2005 begann ich dann neben meinem Vollzeitjob zu doubeln. Am Feierabend fuhr ich oft in Studios nach Köln oder oder nahm mir Urlaub. Ich hätte meinen Job als Angestellte aufgeben können, denn ich bekam genügend Auftritte. Aber ich hatte Angst, bei zu vielen Auftritten eine Grenze zu überschreiten. Angst davor, in eine andere Identität zu rutschen. Ein Double wird niemals die authentische Person sein. Bei anderen Doubles konnte ich das beobachten. Es wirkte immer lächerlich.

Wenn ich in den Spiegel schaue, dann sehe ich mich. Aber da ist auch die Ähnlichkeit mit Frau Merkel. Ich musste mich nie aufwendig schminken. Meine Frisur trage ich schon seit Jahrzehnten so. Vielleicht hat Frau Merkel sie mir abgeschaut. Die Gesten, die Bewegungen, die Mimik: Ich musste sie nie kopieren. Das bin ich. Natürlich verändere ich mich für Auftritte optisch. Normalerweise kleide ich mich feminin und die Merkel-Raute musste ich mir erst angewöhnen. Wahrscheinlich werde ich sie jetzt nie mehr los.

Seit fast einem Jahr ist Frau Merkel nicht mehr Bundeskanzlerin. Sie ist in - und ich auch. Und das gleich doppelt - erst beendete Frau Merkel ihre Karriere und dann beendete ich im Juni 2022 meinen Job als Steuerfachangestellte. Ich schaute im Fernsehen zu, wie Frau Merkel in einen schwarzen Filzmantel gekleidet beim Zapfenstreich verabschiedet wurde. Ich weinte, sah, wie auch Frau Merkel emotional berührt war. Obwohl ich traurig war, spürte ich Erleichterung. Frau Merkel war immer unermüdlich. Sie hat es verdient, sich einfach einmal in den Tag treiben zu lassen. Und ich war selbst erleichtert. Gerade zum Ende ihrer Amtszeit hin hatte ich viele Auftritte. Das war sehr stressig und ich wünschte mir mehr Zeit für mich.

Dabei ist Double zu sein ein schöner Job. Ich reiste in viele Länder und traf viele verschiedene Menschen von Politikern bis zu Künstlern. Einmal flog ich nach Griechenland, um nur einen Satz zu sagen. Aber es gab auch Situationen, bei denen ich darüber nachdachte aufzugeben. Nach der Flüchtlingskrise oder wenn ich die Bilder von Terroranschlägen sah. Bei meinen Double-Auftritten wurde ich oft von Bodyguards begleitet. Die waren echt, denn bis andere Menschen erkannten, dass ich nicht die Politikerin war, hätte es zu spät sein können. Bei einem Dreh in Berlin schrien Menschen mich an: "Merkel muss weg!" Damals hatte ich sogar Angst, wenn ich eine Rolltreppe runterging, dass mich jemand schubsen könnte.

Für meine Aufträge bereitete ich mich vor. Mal las ich die Biografie eines Politikers, mal recherchierte ich Hintergründe, um bei den Auftritten mitreden zu können. Ohne meine Arbeit als Double hätte ich wahrscheinlich nur die "Tagesschau" um 20 Uhr geschaut.

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Einmal fragte mich das lesbische Magazin "Straight" für einen Werbespot zur gleichgeschlechtlichen Ehe an. Sie wollten eine lesbische Frau Merkel für einen Werbespot haben. Ich lehnte zweimal ab. Ich hatte auch Sorge vor der Reaktion meiner polnischen Bekannten. ist bei dem Thema noch sehr konservativ. Dann recherchierte ich. Las, dass wegen ihrer sexuellen Orientierung während der NS-Zeit rund 10.000 Menschen in Lager gesperrt und Tausende ermordet wurden - und von den gesellschaftlichen Ausgrenzungen bis heute. Bei der fünften Anfrage sagte ich zu.

In einem der Spots sitze ich auf einer Bettkante, eine Frau schließt meine Bluse. Das ganze Video ist in Schwarz-Weiß. Viele Menschen schauten ihn, er wurde sogar in Polen ausgestrahlt. Einige warfen mir später vor, ich würde Frau Merkel damit lächerlich machen. Ich ignorierte sie. Ich war nicht nur eine Kopie, als Double hatte ich die Macht, auf wichtige Themen aufmerksam zu machen.

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