Als Kind bettelte ich meine Mutter an: "Mama, können wir nicht einfach meinen Magen austauschen?" Ich dachte, dann wird alles gut. So wie bei meiner Freundin aus dem Nachbarhaus. Die konnte einfach in den Zoo gehen oder sich mit Freunden verabreden. Bei mir war das anders. Mir war jeden Tag übel.
Niemand mag es, sich zu erbrechen, oder den Geruch von Erbrochenem. Meine Oma sagte mal, ich soll mich nicht so anstellen. Aber das war mehr als Ekel: Ich hatte Panik. Als Teenager aß ich fast nur Nudeln und trank Cola, weil mein Magen davon nie komisch grummelte. Außerdem fuhr ich nie Bus. Er schwankte zu viel. Shoppen: die Toilette zu weit weg. Alkohol: purer Kontrollverlust. Lange wusste ich nicht, was mit mir los ist. Erst mit 20 bekam mein Verhalten einen Namen: Emetophobie. Das ist die Angst vor dem Erbrechen, also davor, sich selbst übergeben zu müssen oder andere brechen zu sehen.
Selten fragte mich mal jemand, ob ich mit auf eine Party oder in die Stadt kommen will. Meistens sagte ich dann eh kurzfristig vorher ab oder erfand Ausreden. Ich wollte nicht komisch rüberkommen, dabei bewirkte mein Verhalten genau das. Einmal fuhr ich mit einem Date zum Spazieren. Ich wollte nicht weit weg vom Auto gehen, um notfalls flüchten zu können. Er lachte mich aus.
Auch meine Schulzeit war ein Desaster. Mir war oft schlecht, und ich musste schwänzen. Es ging so weit, dass ich mit meiner Mutter zum Direktor ging. Ich wollte von der Realschule auf die Hauptschule wechseln. Der Direktor fragte mich, warum ich trotz guter Noten wegwill. Ich sagte, es liegt an Mathe. Dabei war das Quatsch, mir fiel Lernen immer leicht. Aber in der Realschule waren wir rund 30 Schüler in einer Klasse und in der Hauptschule nur zehn - dort fühlte ich mich wohler, falls mir schlecht werden würde. Ich wurde herabgestuft. Das muss man sich mal vorstellen: Ich hatte eigentlich eine Gymnasialempfehlung.
Mit 15 ging ich von der Hauptschule ab und saß die meiste Zeit in meinem Zimmer. Mit der Isolation kamen die Depressionen. Und zu ihnen gesellte sich die Angst vor der Angst. Als sich meine Eltern an das Jugendamt wandten und ich auf dessen Anraten hin in die Psychiatrie eingewiesen wurde, war ich furchtbar wütend. Wie konnten meine eigenen Eltern mir das antun? Heute weiß ich, dass sie genauso hilflos waren wie ich und es aus Angst und Liebe taten. Ich bekam die Diagnose Borderline und musste jeden Tag Medikamente nehmen. Sie sollten mich ruhigstellen.
Ich sammelte im Laufe der Zeit noch mehr Diagnosen: mal Schizophrenie, mal Borderline oder Depressionen. Bis eine Therapeutin zu mir sagte, dass ich eine Phobie habe. Nur eine Phobie - denn Phobien sind heilbar. Ich war geschockt. Mein bisheriges Leben fühlte sich verschwendet an. Aber ich wusste endlich, was mit mir los ist, und konnte was dagegen tun. Das war mein erster Wendepunkt. Ich holte meinen Realschulabschluss nach, arbeitete als Tätowiererin. Aber es gab auch Rückschläge: Einmal brach ich in der Toilette zusammen, nachdem ich bei einer Shoppingtour mit Freundinnen eine Lebensmittelvergiftung bekam.
Als ich meinen jetzigen Mann vor sechs Jahren traf, weihte ich ihn sofort ein. Er sollte wissen, worauf er sich einlässt. Irgendwann kamen wir zu diesem Punkt, an dem es ernst wird. Wir redeten über Kinder. Als junge Frau wollte ich immer eine Tochter haben. Aber schwanger sein? Kinder haben? Unmöglich. Schwangere und Kinder waren für mich tickende Zeitbomben, die sich jederzeit übergeben konnten. Wenn beim Frauenarzt eine Schwangere saß, rutschte ich so weit weg wie möglich. Schon beim kleinsten Aufstoßen bekam ich Schweißausbrüche.