von Anne-Kathrin Oestmann
Familie Marx aus Bremen ist nicht das erste Mal in Dänemark – aber das erste Mal in Sönderballe. Einem kleinen Schifferdorf 80 Kilometer hinter der deutschen Grenze. Die nächste große Stadt ist Haderslev. Einkaufen können die Feriengäste im fünf Kilometer entfernten Hoptrup. Der Supermarkt ist von engen Gängen durchzogen und gut sortiert: von Wienerbröd, einem Blätterteig, gefüllt mit Vanillepudding, Marzipan und Mandelsplitter, bis Röd pölse, einer roten Wurst, die in einem langen Brot mit sauren Gurken, gerösteten Zwiebeln, Ketchup und Senf zu einer Tradition wurde: dem Hotdog.
„Oh Gott. Oft. Gefühlte dreißig Mal“, sagt Regina. „Nein ich glaube öfter. Öfter“, entgegnet ihr Mann. Fast zweimal im Jahr fahren sie von Bremen aus über Hamburg durch den Elbtunnel, nach Flensburg über die dänische Grenze weiter hoch in den Norden. Bis nach Ebeltoft, Blåvand, Bjerregård, Bork Hvan, Kegnæs oder zur Insel Als. Kofferraum und Tank sind gefüllt, Café und belegte Brötchen liegen zwischen den Beinen des Beifahrers. Seit 20 Jahren geht es mal an die Nordsee, mal an die Ostsee. Die Entscheidung ist keine einfache: In Ebeltoft gebe es die tolle Aussicht, die Häuser seien von einer leicht hügeligen Landschaft und blühenden Feldern umgeben. Mit dem Strand und den Dünen bei Bjerregård oder Bork Hvan an der Nordsee könne Ebeltoft aber nicht mit halten.
Strände schöner als in der Karibik
„Weder in Frankreich, noch in der Karibik und auch nicht auf der Südseereise. Diese Weite, diese Breite, diese Heftigkeit von so viel Länge – wüsste ich nicht“, sagt sie. „Einfach so laufen, das kannst du nur dort.“ Dann geht es vier oder fünf Stunden Richtung Norden. Bis zu den Hafen von Hvide Sande, wo die drei Windräder stehen. Kurz hinter Nymindegb bis Hvide Sande sind es über 20 Kilometer. Über 20 Kilometer Sandstrand, Meer und Dünen. „Wie wir im Sommer da waren, sind wir jeden Tag spazieren gegangen. Immer am Wasser entlang. Zwischen durch haben wir uns in die Dünen gesetzt und ein Glas Rotwein getrunken – Lambrusco. Die leckere Süße, die salzige Luft.“
„Weißt du was – an der Nordsee kannst du immer sein, bei jedem Wetter. Es ist immer schön. Im Sommer kannst du rein in das Wasser, direkt in die Wellen. Im Herbst und Frühling kannst du an dem Strand entlang laufen. Barfuß – das ist sehr gesund. Und auch im Winter“, sagt Regina und streicht sich durch ihre braunen Locken. „Es tut einfach gut. Man kann sich super erholen.“ Wie eine Zwiebel von Schichten aus Kleidung umhüllt, wanderten sie die 30 Meter hohen Dünen hoch. Ganze 147 Holzstreben auf der Leiter, die im Sand liegt und eine Treppe ersetzt. Mit selbstgestrickten Socken von der Tante über den Füßen, einer Strumpfhose unter der Jeans, T-Shirt, Pullover, Winterjacke, Mütze und einen Schal bis über die Nase gezogen. Ihr letztes Haus in der Ferienhaussiedlung Bjerregård sei keine 300 Meter vom Strand entfernt gewesen.
Einmal und immer wieder
Einmal hier gewesen, kommt man immer wieder zurück. „Es gefällt einem. Mein bester Freund ist schon über 50 Jahre Dänemark-Fan. Seine Eltern sind schon mit ihm hierher gekommen. Jetzt fährt auch seine Tochter mit ihrer Familie nach Dänemark“, sagt Manfred. Er trägt eine Brille auf und einen gräulichen Schnurrbart unter der Nase. „Wer es kennen gelernt hat, hat es auch lieben gelernt.“ Ein Urlaubsziel voller Behaglichkeit und Ruhe. Massenansammlungen wie auf Mallorca, mit Dresscode am Buffet oder einem Sprint zu den Liegen am Pool, um sie mit Badehandtüchern zu ergattern, bleiben einem erspart. „Allein dieses entspannte Wegkommen schon, dieses völlig Unkomplizierte und im Grunde genommen doch auch nur mit wenig Strecke.“
Das Ferienhaus in Sønderballe liegt keine zehn Meter von der Diernæs Bugt entfernt. Eine breite Glasfront, gespickt mit 23 Fenstern und einer Tür macht den Blick über das Wasser frei. Auf der linken Seite blickt man auf das Meer. Zur Rechten sieht man die Schiffe am Anleger schaukeln. Ein Wäldchen in ocker, rostrot, dunkel grün und gelb umzingelt den Genner Strand. Der Herbst ist eingezogen. Und am Sand, an dem die Wellen anrollen, liegen neben Miesmuscheln und Seetang seine Blätter. Nach 12 Uhr und der Sonne im Zenit glitzern die Wellen und spiegeln sich unter der Wohnzimmerdecke, die mit weiß lasierten Holz vertäfelt ist. In der Sonne ist es selbst für Anfang November warm. Hier in der Bucht an der Ostsee weht im Vergleich zu der Nordsee nur ein Windchen.
Das glücklichste Land der Welt: Dänemark auf Platz 3
„Die Dänen sind sehr freundliche Menschen. Keiner guckt dich grimmig an. Alles wird so locker hier gehandhabt, hier gibt es keinen Stress“, sagt Regina. Zudem können viele Einheimischen Deutsch sprechen. „Zumindest ein bisschen“, sagt Manfred und lacht. Seine Betonung liegt auf dem „S“. Die Aussprache von „sch“ fällt den Skandinaviern nicht so leicht. „Die haben die Ruhe noch weg und sind nicht so hektisch wie wir.“ Der Eindruck ist nicht nur ein Eindruck. Nach dem „World Happiness Report“ von Sustainable Development Solutions Network (SDSN) liegt Dänemark in diesem Jahr nach Finnland und Island auf Platz drei der glücklichsten Länder der Welt. „Vielleicht liegt es an deren System?“ Die Frage stellt Regina mit großen Augen in den Raum. Allein von dem hygge-Style umgeben, fühlt man sich wohl. Wenn Abends das Holz im Kamin knistert, wie ein kleines Feuerwerk. Glühende Funken trotzen der Schwerkraft und steigen in wirren Bahnen in die Höhe.
Damals hat Manfred an den dänischen Stränden noch geangelt – das sind schon über 15 Jahre her. Heute sei der Fisch abgefangen und das Wasser an den Küsten zu warm. „Es kommen jetzt schon Fischarten hier hoch, die sonst im Mittelmeer waren. Der Dorsch als Beispiel ist ja kaum noch da. Und früher hast du hier noch Dorsch gefangen“, sagt er. Wenigstens brauchen Rentner keinen Angelschein. Zwischen 18 und 65 Jahren zahlt man dafür um die 25 €. Ein Highlight ist und bleibt das Heringsangeln in Hvide Sande. Anfang Mai ziehen Schwärme von Heringen in den Ringkøbing Fjord um abzulaichen. Vorher müssen sie die Schleuse durchqueren. „Boote – acht Meer in die Länge, drei in der Breite und einen Meter tief sind dann bis zum Rand voll mit Heringen“, sagt Manfred mit Begeisterung. Tonnen an Fisch werden dann aus der Nordsee geholt.
Familie Marx verschlägt es immer wieder in die Einöde. Andere würden behaupten, dass hier der Hund begraben liegt. Aber wer abgelegene liebt, ist in diesem Land abseits des urbanen Trubels genau richtig – Nichts tun und das Sein genießen. Dann wird Kilometer um Kilometer am Strand entlang gestiefelt. Der feuchte Sand knirscht wie Schnee unter den Sohlen. Gegen 18 Uhr halten die Spaziergänger Inne. Sie stehen so nah wie möglich an den Wellen, wie in der ersten Reihe eines Theaterstücks und beobachten das Schauspiel: Wie für eine kurze Zeit die Sonne Stück für Stück hinab sinkt, den Horizont in ihren Farben umhüllt. Der Himmel schimmert rot-orange, gelb, grün und blau. Das Licht der Sonne und ihre Reflexionen sind so grell, dass man kaum hinsehen kann. Silhouetten von Möwen kreisen über die See. In der Luft liegt der Geruch von verbrannten Holz, Harz und Ruß. Abends wird in der Sauna geschwitzt oder vor dem Karmin gelesen. Autobiographien von Frank McCourt oder ein Roman von Sylvie Schenk. Auf dem Esstisch liegt ihr Taschenbuch mit blauen Umschlag: „Schnell, dein Leben“
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