Ein Teppich aus Zigarettenstummeln, Laub und Müllresten führt zum Eingang eines gelben Klinkerbaus. Neben "Lady Boobs" und "Jessie" findet sich auf einem der zwölf Klingelschilder feinsäuberlich mit schwarzem Edding der Name "Pam" geschrieben. Von der Eingangstür des Etablissements führt eine lange Holztreppe hinauf zu den Apartments. Es ist neun Uhr morgens. Pam steht bereits am Treppenkopf. Sie trägt einen leopardengemusterten Fleece-Morgenmantel, dazu graue Strick-Hausschuhe. Ihre langen schwarzen Haare sind zerzaust, das Make-up vom Vortag liegt noch auf. Hastig winkt sie nach oben. Sie flüstert, entschuldigt sich für ihr Auftreten -„leider verschlafen" - und für die Hektik - „die anderen Frauen sollen das bloß nicht mitbekommen". Zügig schleicht sie in ihr Zimmer.
Es riecht nach Karamell und frisch gebrühtem Kaffee. Der Duft vermengt sich mit kaltem Rauch und Patschuli. Pam bereitet sich einen Kaffee mit Karamellsirup zu. Den mag ihr Freund besonders gerne. Beerentöne dominieren den sonst weißgestrichenen Raum. In jeder Ecke findet sich eine pinke Orchidee, sogar ein großes Wand-Tattoo ihrer Lieblingsblume klebt an der Wand. „Die hier habe ich von einem Verehrer bekommen", erzählt Pam und kichert. Sie zeigt eine Tasse mit der Aufschrift "Wann kommt eigentlich der Prinz mit dem Pferd?". „Es gibt viele, die sich verlieben. Die schenken mir Blumen und wollen mich dann oft sehen." Vorsichtig stellt sie die Tasse zurück an ihren Platz.
„Man merkt, dass die Männer einen wertschätzen und nicht nur die Hure in einem sehen", fügt sie hinzu und lächelt.Inmitten des Raumes steht ein großes Bett. Körperlotion, Lippenstift, Haarspray, Kosmetiktasche und Aschenbecher sind darauf verteilt. Über dem Bett hängt ein großer, rechteckiger Spiegel. Pam betrachtet sich kurz darin, dann greift sie zu Kosmetika: Sie legt Make-up auf, zeichnet sich einen schwarzen Lidstrich und trägt hellpinken Lippenstift auf. Ihre Bewegungen sind dabei schnell, routiniert und präzise. Gleichzeitig geht sie immer wieder im Zimmer auf und ab, sucht unter Kissen und Decken mal ihre Kleidung, dann ihr Glätteisen oder ihr Handy. Pam redet viel, hastig und euphorisch. Während sie sich anzieht, erzählt sie kleine Anekdoten aus ihrem Arbeitsalltag. Kürzlich habe sie etwa bei einem Freier vergessen einen Orgasmus vorzutäuschen. „Ich bin ja auch nur ein Mensch." Mit einem Augenzwinkern ergänzt sie: „Manchmal ist es taktisch klug es vorzuspielen. Wenn du aber nichts merkst, vergisst du selbst das."
Pam setzt sich auf ihr schwarzes Ledersofa unter der lilagestrichenen Dachschräge. Sie trägt nun schwarze Baumwoll-Shorts, ein enges, pinkes Oberteil, ein schwarzer Spitzen-BH blitzt hervor. Ihr Haar ist zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Seit knapp einer Woche ist sie in Hamburg. Für die Liebe. Für den Job. Pam kommt ursprünglich aus dem Ruhrpott. Die Großstadt war eigentlich nie so ihr Ding. Über Facebook ist sie kürzlich ihrer neuen Liebe begegnet. Er ist alleinerziehend und liebt Motorräder, genau wie sie. „Er hat mich als normale Frau kennengelernt und wusste bis vor kurzem auch nicht, dass ich arbeite", erzählt sie. „Aber ich wollte ihn einfach nicht mehr anlügen." Nach einem Treffen in einem Billstedter Szene-Lokal brach sie schließlich ihr Schweigen. „Entsetzt war er nicht. Dafür war ich es, als er sagte, dass er sich in mich verliebt hätte." Sie schmunzelt beim Erzählen.
In wenigen Wochen soll der Umzug erfolgen. „Erst mal alleine. Aber ich werde schon früher oder später meine Kinder holen", sagt sie. Ihren fünfjährigen Sohn erwähnt sie nur beiläufig, von ihrer 21-jährigen Tochter hingegen erzählt sie viel.
Sieben Jahre lang sei diese mit der ersten großen Liebe zusammen gewesen. Doch dann sei sie von einem verheirateten Mann schwanger geworden. Ihr Partner habe daraufhin angefangen sie zu schlagen. „Und er hat mit so Dingen wie Mord gedroht. Da bringt sie auch meinen Enkelsohn in Gefahr." Pam redet plötzlich tiefer, bestimmter, schneller und lauter während ihr Blick immer noch den einen Punkt am Boden fixiert. Vor kurzem habe sie mit ihrer Tochter telefoniert. Sie sei wieder schwanger, erneut von einem liierten Mann. Diesmal wolle sie aber abtreiben. „Das kann man sich doch nicht leisten", sagt Pam und schüttelt dabei heftig den Kopf. Sie selbst sei damals im selben Alter schwanger geworden. Doch im Gegensatz zu ihrer Tochter habe sie sich immer für ihr Kind entschieden. „Was ich schon alles im Leben durchhabe. Da bin ich echt stolz drauf, dass ich so bin wie ich bin." Plötzlich wird ihre Stimme ruhiger, beinahe versöhnlich.
Pam steht auf und legt eine CD ein. "Be my baby" von The Ronettes ertönt. Mit stoischer Gelassenheit wippt sie zum Takt der Musik. „Ich weiß noch mein erster Kinofilm mit meiner Mutter war Pretty Woman. Man stellt sich das immer so schön vor, aber im echten Leben ist das schon was anderes. Den Richard Gere wird man so auch nicht kennenlernen."
Damals lebte Pam noch bei ihrer Mutter in Essen. Mit sechzehn Jahren ist sie von zu Hause abgehauen. Ohne Geld oder einen Plan. Kurz darauf lernte sie einen Mann kennen, der „auf kleine Mädchen gestanden hat". Darüber hätte sie sich damals aber keine Gedanken gemacht. „Ich war schon immer klein und zierlich. Wenn man dann halt kleine Mädchen sucht ... Angefasst hat er mich aber nie. Es war immer eine ganz besondere Beziehung", erinnert sie sich. Er soll damals „einer der Großen" im Essener Milieu gewesen sein und besaß ein gut frequentiertes Sex-Kino mit einem kleinen Separee. Pam war achtzehn als sie anfing dort anzuschaffen. „Er hat uns Mädels nie viel Geld abgenommen, sondern uns eine echte Chance gegeben", sagt sie. Ihre Stimme klingt weich und ruhig. „Ich lebte damals auf der Straße. Aber er war immer für mich da und brachte mir Geld, wenn ich es brauchte." Zu diesem Zeitpunkt machte ihr die Arbeit keinen Spaß. Es war lediglich leicht verdientes Geld, wenn es mal einen finanziellen Engpass gab.
Das Licht im Zimmer ist noch immer gedämmt. Die lilafarbenen Jalousien hat Pam zugezogen. Lediglich eine weiße Nachttischlampe und eine blauleuchtende Lichterkette über dem Bett erleuchten den Raum. Pam erinnert sich an das erste Mal im Separee:
„Ich habe danach nur geheult. Es war kein schönes Gefühl. Man kannte es ja auch nicht."Plötzlich überkommt sie ein lautes Lachen. Das macht sie ständig. In der einen Sekunde redet sie ganz laut, in der nächsten wird sie ganz ruhig. Sie verfällt in leises Kichern oder unterdrückt ein lautes Lachen. Dabei hält sie sich mit beiden Händen den Mund zu und strampelt mit den Beinen. Dann flüstert sie wieder: „Aber das Geld danach zu sehen, das war ein schönes Gefühl." Zwei Jahre später geriet sie an ihren ersten richtigen Zuhälter und neuen Lebenspartner. „Ich war 19 oder 20, als ich angefangen habe bei ihm auf der Straße zu arbeiten." Damals hätten die Frauen auf dem Strich noch richtig viel Geld verdient - bis zu 2.000 D-Mark in drei Stunden. Gleichzeitig habe es aber auch „richtig auf die Fresse gegeben, wenn man nicht gespurt hat". Das musste auch Pam zu spüren bekommen. Kurze Zeit später traf sie daher eine Entscheidung. Sie verließ ihre Heimatstadt und zog zu einer Freundin ins nordrhein-westfälische Solingen. Dem Leben auf der Straße wollte sie fortan den Rücken zukehren, stattdessen lieber freiberuflich als Prostituierte arbeiten. „Ich war frei und eigenständig", erinnert sie sich.
Pam steht wieder auf. Auf ihrem Bett liegen zwei Handys. Sie greift sich das Samsung Galaxy mit der pink-weißen Handyhülle. „Ist der nicht süß?", fragt sie plötzlich und zeigt auf das Foto eines kleinen, blonden Jungen mit blauen Augen und Grübchen in den Wangen. „Das ist mein Enkelsohn. Er ist gerade ein Jahr alt geworden." Pam strahlt. Immer wieder neigt sie ihren Kopf mal nach rechts, dann nach links und lächelt. Dann hält sie wieder inne, räuspert sich und legt das Handy zur Seite. Ohne Überleitung sagt sie schließlich: „In Solingen bin ich dann an einen Albaner geraten. Das war weniger schön." Mehrmals habe dieser ihr ein blaues Auge geschlagen und sie mit anderen Frauen betrogen. Pam spricht nun leise und mit brüchiger Stimme. Sie erzählt, wie sie wieder anfing auf dem Strich zu arbeiten - und von ihrer Vergewaltigung. Acht Jahre mit anschließender Sicherheitsverwahrung soll ihr Peiniger aufgrund ihrer Aussage bekommen haben.
Auf dem hölzernen Beistelltisch neben dem Ledersofa hat Pam zwischen bläulichen Lichterketten und rosafarbenen Orchideenblüten liebevoll eine kleine Buddha-Statue aufgestellt. Die Steinfigur hat sie aus ihrer alten Wohnung mitgenommen. Ihre neuen Kunden sollen sich schließlich wohl fühlen und wiederkommen. „Für mich ist es etwas Kontinuierliches. Da ist eine Verbindung ganz wichtig." Viele ihrer alten Kunden seien bereits seit über fünf Jahren zu ihr gekommen. Auch in Hamburg möchte sie „auf Stammkunden arbeiten". Plötzlich steht sie auf und flüstert: „Viele meiner Männer besuchten mich seit meiner Scheidung." Pam erzählt, dass sie zehn Jahre lang aus dem Milieu ausgestiegen war, neun davon war sie verheiratet. Aus der Ehe stammen ihr fünfjähriger Sohn und die Erinnerungen an ein „völlig solides Leben". Doch mit den Jahren sei ihr Ex-Mann immer tiefer in die Alkoholsucht gerutscht, wurde gewalttätig und unberechenbar. Ihre Vergangenheit als Prostituierte habe er nie verkraftet. Sie „musste ihn einfach verlassen." Von diesem Kapitel in ihrem Leben erzählt Pam weniger detailliert. Immer wieder bricht sie ab und gerät ins Stocken. Heute habe sie nur aufgrund des gemeinsamen Kindes noch Kontakt zu ihrem Ex-Mann. Wo sich allerdings ihr Sohn aufhalte, will sie nicht verraten. Nach der Scheidung tauschte Pam wieder Küchenschürze gegen Lederstrapse. Ihre Freier empfing sie fortan nur noch bei sich zu Hause.
Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit der Redaktion der Eimsbütteler Nachrichten erarbeitet. Das Porträt wird in der nächsten Printausgabe (#3 Arbeiten) der Lokalzeitung erscheinen. Rétablir l'original