Von Anna-Theresa Bachmann
Das mit dem Dachdecken und dem Seegras ist so wie mit allem auf Læsø: Geduldig muss man sein mit der Natur, die das Leben der 1800 Menschen auf der kleinen Insel im Norden Jütlands seit jeher bestimmt. So auch an diesem Morgen im Herbst, an dem Dachdecker Henning Johansen an seiner Pfeife nuckelt und darauf wartet, dass sich die Nebelschwaden vor seinem Küchenfenster verziehen und er mit der Arbeit beginnen kann. "Jede kleine Gemeinde hat ihre eigene Geschichte", sagt er. Man müsse sie nur finden. So wie damals, als Johansen einsah, dass der sandige Inselboden nicht einmal für den Anbau von Kartoffeln taugt und er besser wirtschaftet, wenn er sich um die witterungsgeplagten Dächer auf Læsø kümmert.
Zu seinem neuen Arbeitsalltag gehörten bald auch die Dächer der ältesten Häuser der Ostseeinsel - aus Seegras. So wie an jenem Morgen, als der Nebel endlich nachlässt. Der Weg führt Johansen über die schnurgeraden Straßen Læsøs, vorbei an Kuhweiden zu einem der alten Inselhäuser. Neben dem abgedeckten Dachstuhl steht ein Teil des alten Seegrasdaches, das Johansen zuvor zersägt hat. Es ist vermutlich 300 Jahre alt. Vögel haben Nester darin gebaut, Pflanzen sind auf dem Dach gewachsen, deren Wurzeln haben es mit der Zeit undicht gemacht.
Seegrasdächer bilden nach etwa einem Jahr eine silbrige, wasserabweisende Patina. Sie sind geruchsneutral und dämmen Wärme; und wegen ihres hohen Salzgehalts verrotten sie nicht und brennen im Gegensatz zu Reet auch nicht. Alles Eigenschaften, die Seegras auch fernab der Tradition auf Læsø in den letzten Jahren zu einem gefragten Baustoff gemacht haben. Etwa in Deutschland, wo es als nachhaltiges Dämmmaterial verwendet wird.
Doch zu Beginn seiner neuen Karriere vor mehr als zehn Jahren stellte das Seegras Johansen zunächst vor Schwierigkeiten. Denn die Konstruktion, die aussieht wie die überproportionale Mähne eines Shetlandponys, bedarf einer ganz eigenen Wickeltechnik. Sie entstand vermutlich, als die Salzsiedereien, für die Læsø in Dänemark bekannt ist, so viel Holz vertilgten, dass im 17. Jahrhundert kaum noch ein Baum auf der Insel stand. Auf der Suche nach Alternativen für ihre Dächer benutzten die Menschen das angespülte Seegras.
...
Rétablir l'original