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Hier Jubel - da Frust Wie das Referendum die Türken in Deutschland spaltet

Zwei Deutsch-Türken gehen in Berlin zur Wahl © Sean Gallup/Getty Images


Auch in Deutschland geht ein tiefer Riss durch die türkischstämmige Bevölkerung. Der Ausgang des Referendums wurde mit Spannung erwartet - strikt getrennt nach Ja- und Nein-Lager.


"Evet" oder "Hayir" - "Ja" oder "Nein": Die Auszählung des Referendums haben am Ostersonntag auch viele in Deutschland lebende Türken verfolgt. Als sich am Abend abzeichnete, dass eine knappe Mehrheit (51,4 Prozent) der Türken für die Verfassungsänderung gestimmt hat, zeigte sich der politische Riss in der türkischen Gesellschaft. In Bars, Restaurants und Kneipen in Berlin-Kreuzberg, Duisburg-Marxloh und anderswo verfolgten die Türken den Ausgang des Referendums strikt getrennt nach Ja- und Nein-Lager.

Laut der Wahlkommission in Ankara stimmten knapp zwei Drittel (63,1 Prozent) der hierzulande lebenden teilnehmenden Türken mit "Ja". Die Türkische Gemeinde in Deutschland zeigte sich besorgt über den großen Zuspruch. "Es ist erschreckend, dass Menschen, die in zweiter und dritter Gastarbeitergeneration in Deutschland leben, sich für ein System entscheiden, dass alle demokratischen Rechte mit Füßen tritt", sagte der Vorsitzende Gökay Sofuoglu am Ostermontag. Es sei nun umso wichtiger, den Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl zu geben.

Auch der Politologe Ferhad Seydar glaubt, dass Erdogan hierzulande besonders die Menschen erreichen kann, die Ablehnungserfahrungen gemacht hätten. Bei diesen komme die "Starker-Mann-Rethorik" Erdogans und einiger Politiker der Regierungspartei AKP gut an.

"Erdogan ist stark, er macht uns stark"

Als Erdogan am Abend erstmals von einem Sieg spricht, zieht auf der Weseler Straße des von Türken geprägten Duisburger Stadtteils Marxloh hupend das eine oder andere Auto vorbei. Ein älterer Türke aus Krefeld, der beim Fest vor der Moschee mit einem Freund zusammensitzt und seinen Namen nicht nennen möchte, findet: "Es ist gut, dass es so ausgegangen ist. Erdogan ist stark, er macht uns stark."

Marxloh, für die einen ein bunter Multikulti-Pott, für andere ein Mahnmal für misslungene Integration, ist geprägt von hoher Arbeitslosigkeit. Rund 64 Prozent der Marxloher haben heute einen Migrationshintergrund, Türken prägen das Straßenbild. Das Misstrauen gegenüber deutschen Journalisten wird überall deutlich.

"Erdogan hat die Türkei zu dem gemacht, was das Land heute ist", meint Ayshe Bal. "Heute ist das Kopftuch erlaubt, man kann wählen, was man möchte, das Land ist erfolgreich." Allerdings werde die Türkei in Deutschland mit zweierlei Maß gemessen, kritisiert die 29-Jährige in einer Imbissbude. "Das geplante neue türkische System ist zum Beispiel vergleichbar mit dem US-amerikanischen. Und über die sagt niemand was."

"Knapp 49 Prozent haben Mut gezeigt"

Wenig Verständnis zeigte Essens Oberbürger Thomas Kufen (CDU) für in Deutschland lebende Unterstützer der Reform: Stimme man aus der deutschen Demokratie heraus für ein autoritäres System in der Türkei, sei das "preiswert und komfortabel", sagte der OB der "Bild"-Zeitung am Montag. "Von ihrer bequemen Wohnzimmercouch aus betrachtet hat das Referendum für diese Türken keine Konsequenzen. Ausbaden müssen das die, die in der Türkei Probleme mit der Regierung haben." Im Ruhrgebiet mit dem Generalkonsulat in Essen und einem Extrawahllokal in Dortmund waren drei von vier Stimmen (fast 76 Prozent) ein "Ja".

In Berlin-Kreuzberg verfolgten in einer Bar am Kottbusser Tor knapp 100 Kurden und eher links eingestellte Türken die Auszählung, viele von ihnen Unterstützer der pro-kurdischen Partei HDP. Es wird diskutiert, aber die meisten sitzen gespannt auf ihren Klappstühlen und verfolgen die Übertragung in den türkischen Nachrichten. Als das Ergebnis steht, gehen in der Kreuzberger Bar viele Gegner Erdogans frustriert nach Hause. Andere bleiben und zweifeln an dem knappen vorläufigen Ergebnis.

Für den Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde Deutschland ist aber auch das Ergebnis der Nein-Stimmen wichtig: "Knapp 49 Prozent haben den Mut gezeigt und "Nein" zur Verfassungsänderung gesagt. Das ist eine stolze Zahl. Diese Menschen, die für eine Demokratie in der Türkei sind, brauchen nun unsere Unterstützung", sagte Sufouglu am Montag zum Abstimmungsergebnis in Berlin, wo das "Ja"-Lager nur einen hauchdünnen Sieg davontrug. Befürchtete Aggressionen auf den Straßen unterblieben laut Polizei. Die Berliner Polizei spricht von einem ruhigen Tag und Abend.

Jubel in Baden-Württemberg

Nicht alle Türken in Berlin sind gegen Erdogan - und zeigen Flagge. Am Kurfürstendamm tanzten mehr als 100 junge Türken, schwenken rot-weiße Fahnen und riefen: "Erdogan, Erdogan". Autokorsos umrunden hupend das Europacenter und die Gedächtniskirche. Die Stimmung ist ausgelassen wie nach WM-Spielen - nur dass es diesmal um Politik geht. Murat, 32, der die Auszählung über einen kleinen Fernseher in seinem Kiosk in Kreuzberg verfolgt, sagt: "Erdogan tut unserem Land doch gut. Warum soll er nicht mehr Macht bekommen?"

Auch in Baden-Württemberg feierten Türken mit Autokorsos und türkischen Flaggen. In Mannheim kamen mehr als 100 Teilnehmer mit Fahnen zusammen, in Ulm einige Dutzend. Die SPD-Landesvorsitzende Leni Breymaier ist über den Ausgang des Referendums in der Türkei entsetzt. "Das Ergebnis ist bitter, gerade weil es so knapp ist", sagte Breymaier in einer Mitteilung am späten Sonntagabend.

Anna Kristina Bückmann, Martin Oversohl, Andreas Rabenstein/DPA


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