arte Magazin: Herr Klein, die Zahl antisemitischer Straftaten hat in Deutschland in den Jahren 2020 und 2021 einen Höchststand erreicht. Welche Ursachen sind dafür verantwortlich?
Felix Klein: Zum einen, und das ist eine positive Entwicklung, werden antisemitische Straftaten heute häufiger zur Anzeige gebracht als früher. Zum anderen, das ist besorgniserregend, beobachten wir seit einigen Jahren einen starken Anstieg von Straftaten, besonders im Internet. Seit Beginn der Pandemie ist die Zahl der Social-Media-Posts mit antisemitischen Inhalten um das Dreizehnfache gestiegen. Das ist nicht verwunderlich: Menschen sind in Krisenzeiten leider empfänglicher für irrationale Denkmuster und Verschwörungsmythen - und Antisemitismus ist eine sehr geübte und übliche Technik. Auch der Einfluss des Nahostkonflikts lässt sich anhand von Zahlen nachweisen: Im Mai 2021, als es besondere Spannungen zwischen Israel und dem Gazastreifen gab, kam es zu einem starken Anstieg antisemitischer Kriminaldelikte.
arte Magazin Laut Bundeskriminalamt (BKA) wird der Großteil antisemitischer Straftaten von Rechtsradikalen verübt. Wie kommt es, dass der Zentralrat der Juden die Bedrohung durch islamistischen Antisemitismus weit höher schätzt?
Felix Klein Die Einordnung der Straftaten wird vom BKA und von der Polizei in einem doppelten Verfahren geprüft und gilt somit als bestätigt. Dennoch spiegeln die Aussagen der jüdischen Community eine Empfindung, deren Ursache aufgeklärt werden muss. Ich habe deshalb den „Runden Tisch Sicherheit" angeregt, an dem Innenministerium, BKA, Verfassungsschutz und der Zentralrat der Juden diese Wahrnehmungsdiskrepanz erörtern. Eine Erkenntnis ist, dass Delikte, die unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen, etwa Pöbeleien oder Gesten, häufiger von jungen Menschen aus muslimisch geprägten Milieus verübt werden.
arte Magazin Was wird konkret getan, damit jüdische Menschen ihre Identität angstfrei zum Ausdruck bringen können?
Felix Klein Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle im Jahr 2019 hat die Bundesregierung die gesetzlichen Grundlagen für den Kampf gegen Hasskriminalität erweitert. Bund und Länder investieren außerdem in die Sicherheit jüdischer Einrichtungen: in bauliche Maßnahmen und Fortbildungen für das Sicherheitspersonal. Zudem werden zivilgesellschaftliche Organisationen gefördert, die über Antisemitismus aufklären.
Felix Klein Ich stimme Baddiel insofern zu, als dass ich mir wünschen würde, antisemitische Übergriffe würden ähnlich starke Protestaktionen hervorrufen, wie es in anderen Bereichen der Fall ist. So kam es im Mai 2021 zu Beleidigungsdelikten, Fahnenverbrennungen und Volksverhetzungen vor jüdischen Einrichtungen, doch es gab wenig Solidarität und Gegenkundgebungen vonseiten der Bevölkerung. Es muss aber festgehalten werden, dass der Diskurs in Deutschland - dem Land des Holocaust - ein anderer ist. Unsere Erinnerungskultur sowie die staatlichen und gesellschaftlichen Maßnahmen bewirken hoffentlich, dass sich die hier lebenden Juden nicht diskriminiert fühlen.
Felix Klein Nein. Als Regierungsbeauftragter gegen Antisemitismus betone ich immer wieder, dass jegliche Form von Judenhass gleichermaßen zu verurteilen ist - egal, woher er kommt.
Felix Klein Nach meinem Dafürhalten wird die Grenze überschritten, wenn die israelische Regierungspolitik mit der des Dritten Reichs verglichen wird, wenn das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird oder wenn der Staat Israel anders behandelt wird als andere westliche Demokratien.
Felix Klein Natürlich - und das geschieht auch tagtäglich in den Medien. Die harten Maßnahmen der israelischen Regierung gegen die palästinensische Zivilbevölkerung, auch der Grenzverlauf der Mauer um Israel, können selbstverständlich diskutiert und kritisiert werden. Wenn aber der Gazastreifen als Konzentrationslager bezeichnet wird oder in Deutschland lebende Juden für das verantwortlich gemacht werden, was in Israel geschieht, dann ist das ganz klar antisemitisch.
Felix Klein, Jurist und Diplomat: Seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus.
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