Mallorca, Mitte August 2013. Blauer Himmel, Sonne, 30 Grad im Schatten. Am Pool eines Viersternehotels chillt Lucas Slunjski auf einer Liege unterm Sonnenschirm. Gestern Nacht ist es spät geworden.
Bis nach Mitternacht hat er mit den anderen Reiseteilnehmern und den Teamern in seinen 18. Geburtstag gefeiert. Klar haben sie es krachen lassen. Darum ist er schließlich hier und nicht zu Hause in Hamm: um Spaß zu haben, neue Leute und Orte kennenzulernen. Und natürlich zum Fotografieren - Lucas' großes Hobby, das er auch zum Beruf machen will. Er grinst, als er sich auf dem Kameradisplay die Schnappschüsse der letzten Nacht ansieht. Zeigen will er sie lieber nicht. „In der Bar ist eine Band aufgetreten, die für mich ‚Happy Birthday' gespielt hat, und der ganze Laden sang mit. Echt irre!"
Dass hier der Spaß im Vordergrund steht und nicht seine körperliche Behinderung, gefällt Lucas an den Kinder- und Jugendreisen für Menschen mit Behinderung, die er in den letzten Jahren mitgemacht hat. Lucas ist querschnittsgelähmt, seit er mit fünf Jahren einen Verkehrsunfall hatte. Mit acht unternahm er seine erste Reise ohne Eltern: Lucas und zwei weitere Kinder mit drei Reisebegleitern. Durch Zufall hatte Nicole Slunjski, Lucas Mutter, von der Kinderreise mit Eins-zu-eins-Betreuung erfahren und ihren Sohn mit an die Nordsee fahren lassen. Ostsee, Sauerland, Berlin, Venedig und Mallorca folgten. Insgesamt neunmal war Lucas in den letzten zehn Jahren mit einer Gruppe Gleichaltriger unterwegs. „Damit Lucas trotz Behinderung selbstständig ist", erklärt seine Mutter.
Bereut hat sie es nie, im Gegenteil. Denn nicht nur ihr Sohn, auch sie erholte sich. Heute berät die 43-Jährige ehrenamtlich besorgte Eltern für „Freizeit ohne Barrieren". Der Verein bietet Schulungen für Reisebegleiter an, die Menschen mit Behinderung auf Reisen unterstützen. Dabei erwerben die sogenannten Teamer praxisnah Kenntnisse in Pflege, Rollstuhlhandling und Animation - schließlich soll Urlaub Spaß machen. Bei seinen ersten Reisen hatte Lucas noch Pflegestufe 1 und brauchte die Hilfe der Teamer. Heute kommt er allein klar. „Ich brauche seit drei Jahren nur noch ganz selten etwas Unterstützung", sagt er und blinzelt in die Sonne.
Wie viel Betreuung Kinder und Jugendliche benötigen - von gering (A) bis hoch (D) -, können Eltern individuell bestimmen. „Die meisten unserer Reiseteilnehmer haben Betreuungsstufe B, wobei wohl auch A oft ausreichen würde", berichtet Dominik Nolte, Gründer und Geschäftsführer von YAT Reisen, einem Veranstalter, der seit 2003 auf Fahrten für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderung spezialisiert ist. Die Nachfrage nach seinem Angebot sei in den letzten Jahren gestiegen, beobachtet Nolte. Ein Grund dafür: „Die Eltern sind lockerer geworden", meint er. Ängste sind dennoch da. Der Satz, den er und sein Team am häufigsten zu hören bekommen, ist dann auch: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich eine fremde Person so gut um mein Kind kümmert wie ich!" Darum buchen die meisten Eltern für ihr Kind lieber die jeweils nächsthöhere Betreuungsstufe.
Die Nachfrage nach betreuten Reisen ist riesigEgal, ob Strandurlaub, Städtereise, Zeltlager oder Klassenfahrt - Kinder- und Jugendliche verreisen gern ohne ihre Eltern. Die meisten starten mit sieben Jahren, fahren dann im Schnitt dreimal pro Jahr für mehrere Tage weg, so das Ergebnis einer Studie über Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland, die erstmalig das Reiseverhalten von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen analysiert hat. Gefördert wurde sie vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Über 60 Millionen Übernachtungsreisen und zusätzlich rund 670 Millionen Tagesausflüge unternimmt die Altersgruppe der Drei- bis 13-Jährigen pro Jahr.
Auffällig ist, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung deutlich seltener und auch später als ihre Altersgenossen allein unterwegs sind. Die gut 800 Reiseteilnehmer etwa, die 2013 mit YAT Reisen in die Ferien gefahren sind, waren im Schnitt 13 Jahre alt. Das liegt auch daran, dass Angebote für betreute oder gar inklusive Kinder- und Jugendreisen insgesamt und gerade für jüngere Zielgruppen noch äußerst rar sind.
Das soll in Zukunft anders werden. „Den Bedarf, der da ist, können wir allein niemals decken!", sagt Dominik Nolte. Dass Kinder- und Jugendreisen nicht nur pädagogisch wertvoll und sozial wichtig sind, sondern auch über ein wirtschaftliches Potenzial verfügen, haben auch andere Reiseanbieter erkannt und handeln.
„Das Interesse am inklusiven Jugendreisemarktsektor ist sehr groß", sagt Guido Frank von der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholisches Jugendreisen, die das Projekt „Einfach weg - Auf zu inklusiven Kinder- und Jugendreisen" initiiert hat. Ziel ist es, sowohl Kinder- und Jugendreiseveranstalter als auch Unterkünfte für inklusive Angebote fit zu machen. Im Rahmen des Projekts, das wissenschaftlich begleitet und von der Aktion Mensch und der Stiftung Deutsche Jugendmarke unterstützt wird, sollen sechs unterschiedliche Reiseveranstalter inklusive Kinder- und Jugendreisen für den Sommer 2015 auf die Beine stellen. Im Moment laufen die Planungen. Wie gut diese Angebote angenommen werden und ob sie sich durchsetzen, bleibt abzuwarten. Erprobte allgemeingültige Konzepte gibt es noch nicht. „Die ersten Reiseveranstalter werden sich auf den Weg machen und inklusive Kinder- und Jugendreisen anbieten, aber in kleinen Schritten", mutmaßt Guido Frank, denn um optimale Bedingungen zu schaffen, brauche man Zeit. Und Vorbilder, an denen man sich orientieren kann.
Auch ruf Reisen, deutscher Marktführer im Bereich der betreuten Jugendreisen, beschäftigt sich intensiv und konzeptionell mit Inklusion. Schon in der Vergangenheit hat der Veranstalter immer wieder Jugendliche mit Behinderung mitgenommen. Doch das waren Ausnahmen. In Zukunft soll daraus ein echtes Angebot werden.
Diesen Sommer bieten ruf und YAT Reisen gemeinsam ein erstes inklusives Sommercamp an. „Wir haben viel positives Feedback bekommen", sagt Inga Hörttrich von ruf Reisen. Konkrete Anmeldungen lägen allerdings noch nicht vor. „Die meisten denken, das Problem wird sein, dass die beiden Rollstuhlfahrer allein am Pool sitzen, während der Rest im Meer schwimmen geht", glaubt Dominik Nolte. „Dabei kommen Jugendliche mit und ohne Behinderung erfahrungsgemäß prima klar miteinander!" Lucas Slunjski findet die Idee mit dem inklusiven Sommercamp eigentlich super. Schließlich klappt das Miteinander ja auch in der Schule und auf Klassenfahrt. Aber mitfahren? „Wenn ich jemanden finde, der mich begleitet, fliege ich lieber nach New York!"