Spätestens seit der Pisa-Studie ist klar: Das Deutsche Schulsystem muss sich ändern! Nur wie schafft man eine neue Lern- und Lehrkultur an unseren Schulen? Was können wir von anderen Ländern lernen? „Unsere Kinder haben im globalisierten Konkurrenzkampf eindeutig die schlechteren Karten!“, sagt Professor Dr. Kersten Reich, Experte auf dem Gebiet der internationalen Lern- und Lehrforschung. Was eine gute Schule bieten muss, damit alle Kinder die besten Bildungschancen haben – unabhängig von Herkunft, Begabung, den kulturellen und sozialen Hintergründen, darüber sprach er mit unserer Autorin Anja Schimanke.
Hallo Professor Reich, Sie sind dabei, eine Schule zu gründen: „Die Inklusive Universitätsschule Köln“, die in drei Jahren starten soll. Wozu?
Alle Universitäten im Ausland, die Lehrerausbildungen machen, haben eine Praxisschule für ihre Studenten und Hochschullehrer. An der zeigen sie, wie es besser gehen kann als im Regelschulbetrieb. Das ist Standart weltweit und das ist der hauptsächliche Grund, warum wir in Köln so eine Schule gründen wollen. Am Beispiel dieser Schule versuchen wir zu zeigen, was notwendig wäre, das Schulsystem in Deutschland anders zu machen …
Was ist an unserer Lehrerausbildung verbesserungswürdig?
Die Lehrer in Deutschland haben ein grundlegendes Problem: Ihre Ausbildung ist ein strukturelles Fehlkonstrukt! Etwa 4/5 ihrer Ausbildungszeit fressen die wissenschaftlichen Fächer. Nur 1/5 bleibt für Grundlagen wie Erziehen, Beurteilen, Diagnostik, Fördern und Beraten von Schülern, die Lehrerrolle, neue Unterrichtmethodik – das ist zu wenig. Im Ausland ist es, generell gesprochen, genau umgekehrt. Wir haben in unserer Curricula zu viel Stoff, der bedient werden soll. Diese Wissensorientierung setzen wir mit Bildung gleich.
Was kann man dagegen tun?
Würden wir uns mehr fächerübergreifend organisieren, gäbe es nicht diese vielen Wiederholungen und wir hätten mehr Zeit, um die Kompetenzen der Schüler zu fördern. Ich glaube, dass Deutschland noch einen sehr schmerzlichen Weg gehen wird, weil die Ergebnisse der internationalen Schulleistungsvergleiche unter diesen Voraussetzungen nicht besser werden.
Warum ist das deutsche Schulsystem schlecht?
Wir haben zu wenig Bildungsausgaben. Wenn wir uns mit anderen OCED-Länder (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Anm. d. Red.) vergleichen, dann ist Deutschland immer im letzten Drittel. Auch in der Betreuungsrelation Lehrer: Schüler und in der Schularchitektur gibt es große Mängel.
Welche Probleme sehen Sie noch?
Wir lassen eine viel zu frühe Selektion stattfinden, schon nach vier Grundschuljahren, also im Alter von zehn Jahren. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 15, 16 Jahren. Da stecken viele Probleme drin: 1., die Aufteilung der Schüler ist viel zu früh. 2., gibt es die Möglichkeit Schüler nach unten abzuschieben, indem sie sitzen bleiben. International ist das gar nicht möglich, weil Sitzenbleiben kein erfolgreicher Weg ist – das wurde empirisch nachgewiesen. Das größte Problem ist, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsabschluss in keinem anderen OECD-Land der Welt so groß ist wie in Deutschland. Oder andersherum formuliert: Die Bildungsungerechtigkeit ist nirgends so groß wie in Deutschland.
Was ist am Sitzenbleiben so problematisch?
Das Abschieben nach unten hat bei uns dazu geführt, dass sehr viele Schüler im Förderschulbereich landen, die aus dem Regelschulbetrieb herausfallen und in der Förderschule gar nicht die Förderung erhalten, die man sich erhofft. In anderen Ländern sind alle Schüler in einer Regelschule und können nicht abgeschoben werden. Die Lehrenden müssen sich um diese Schüler kümmern, denn sie werden sie nicht los und überlegen sich deshalb, wie sie methodisch mit diesen Schülern in einem heterogenen Unterricht umgehen.
Was können wir von anderen Ländern und ihren Schulmodellen lernen?
Dort gibt es eine Schule für alle und zwar über eine lange Zeit. Bei uns wäre das so, als würden wir unsere Grundschulzeit bis zur 9., 10. oder 12. Klasse verlängern. Und es findet ein inklusiver Unterricht statt.
Was genau bedeutet Inklusion?
Heterogenität! Rollstuhlfahrer, blinde Kinder, Kinder mit Lernschwierigkeiten, die bei uns ausgeschlossen werden, weil sie eine Behinderung oder einen schwierigen soziologisch-ökologischen oder ethno-kulturellen Hintergrund haben, sind zusammen mit anderen Kindern, auch hochbegabte. Steckt man lernschwierige Kinder mit Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern in eine Gruppe zusammen, dann kann daraus nichts werden, weil die Anregungen fehlen. Bringe ich dagegen gemischte Gruppen zusammen, wie sie auch in der Bevölkerung vorkommen, dann ist der Schlüssel zu einer erfolgreichen Schule!
Viele Eltern fürchten, dass inklusiver Unterricht die leistungsstarken Kinder benachteiligen könnte …
Dieser Gedanke ist Unsinn! Diese vermeintlich hochbegabten Schüler erfahren als Streber oft sehr starkes Mobbing – eine bitteres Problem, wenn Leistung als etwas Negatives gilt und nicht honoriert wird. Durch inklusiven Unterricht kriegen diese Schüler eine grundlegend positive Rolle, weil sie etwas für die Gruppe bringen, indem sie Nachhilfe geben, andere unterstützen und ihnen den Stoff erklären, den sie sich selbst erarbeitet haben. Dadurch werden sie besser und nicht schlechter.
Also profitieren leistungsschwache und -starke Kinder von inklusivem Unterricht?
Ja, und es herrscht eine viel größere Gelassenheit. Der Gruppendruck, der bei uns sehr stark vorhanden ist, gerade an Gymnasien, und das Mobbing, was damit verbunden ist, gibt es in anderen Ländern nicht so extrem. In inklusiven Systemen ist das soziale Vorbild, was Kinder lernen, sehr viel stärker als bei uns – und das ist das, was ich der deutschen Schule mit am meisten vorwerfe.
Was meinen Sie?
Die deutsche Schule ist im sozialen Bereich die schwächste Schule. Wenn wir einen Pisa-Vergleich „Soziales Lernen“ machen würden, dann wäre Deutschland garantiert auf dem letzten Platz! Die Egoismen an deutschen Schulen sind sehr auffällig. Wir haben oft ausländische Forscher, die wir dann in die deutschen Schulen schicken, die sind darüber am meisten geschockt.
Worüber?
Über das geringe Eingreifen der Lehrer bei sozialen Problemen! Lehrer wollen nicht erziehen und greifen zu selten ein, sind nicht streng genug und besitzen zu wenig Präsenz. Die Erziehungsaufgabe, die Lehrer haben, wird bei uns nur sehr selten wahrgenommen. Sie verstehen sich nur als Fachvermittler. Es kann nicht sein, dass er die Schüler nicht als seinen Hauptkunden sieht. Der Schüler ist das, was die Lehrerarbeit bedingt. Nicht der Schüler muss zum Lehrer gehen, sondern der Lehrer muss sich um seine Schüler kümmern. Diese Haltungsumstellung fehlt noch an deutschen Schulen.
Hat Deutschland durch die Pisa-Ergebnisse etwas gelernt?
Die Reaktion von Deutschland auf Pisa war eine andere als bei anderen Ländern, die ebenfalls schlecht abgeschnitten und dann umgestellt haben. Nehmen wir als Beispiel die gymnasiale Oberstufe: Weltweit kann man einen Internationalen Bachelor machen, für den man sich fünf Fächer aussuchen darf. Was machen wir? Wir verteilen Grundlagenfächer und zwingen die Schüler diese Hauptfächer zu nehmen. Ein Schüler, der keine naturwissenschaftlichen Fähigkeiten besitzt, wird gezwungen Mathe zu nehmen, nur weil er einen Schwerpunkt in Kunst oder Musik gewählt hat. Wozu? Das ist der völlig falsche Weg! Damit verenge ich die Handlungschancen und versuche etwas in einem Alter von 15, 16 zu steuern, was gar nicht mehr zu steuern ist.
Welchen Wert hat heute das Abitur?
Das Abitur ist heute in der globalisierten Welt nur ein Mindeststandart, der in der Bildung erforderlich ist und den ¾ eines Jahrganges erreichen müssen! Wir sind im OECD-Rangvergleich ganz hinten, was die Abschlussquote mit Hochschulberechtigung angeht, weil das Abitur schwerer ist als in anderen Ländern. Dabei müssten es viel mehr Schüler und vor allem leichter erreichen können. Was hat man heute mit dem Abitur oder Studium? Das sind die normalen Stellen, die man damit bekommt. Die Illusion, die man der Jugend unterbreitet, das sie was Besonderes haben, die ist gar nicht mehr gegeben.
Macht Sie das als Forscher wütend?
Natürlich. Man hat hier ein Verständnis von Allgemeinbildung, was noch aus dem 19. Jahrhundert stammt und überhaupt nicht mehr zeitgemäß ist. In Deutschland in die Schule zu gehen, ist eine echte Benachteiligung. Unsere Kinder haben im globalisierten Konkurrenzkampf eindeutig die schlechteren Karten.
Ihre Schulzeit muss schrecklich gewesen sein oder woher kommt Ihre Motivation neue Formen des Lernens zu finden?
Ja, meine Schulzeit war schrecklich! Ich bin tatsächlich Forscher geworden aus der Erfahrung der eigenen Schulzeit. Ich wollte es besser machen. Meine Hoffnung, dass sich was Grundlegendes verändert, ist in Deutschland eher enttäuscht worden.
Was störte Sie schon als Schüler?
Was mich sehr gequält hat, war die Antiquiertheit des Bildungsstoffes! Das Curriculum ging viel zu wenig auf die Interessen von uns Jugendlichen ein. Wenn ich jetzt bei meinen Kindern schaue, fast 40 Jahre später, hat sich das Curriculum gar nicht geändert – die Methodik auch nicht. Es gibt keinen Ort in Deutschland, bei dem das berufliche Feld so antiquiert stehen geblieben ist wie das Gymnasium. Dort hat man nach wie vor überwiegend Frontalunterricht, Lehrer, die durch den Stoff hetzen und keine Zeit haben, die Schüler zu beraten.
Was ist Ihr Traum von der perfekten Schule?
Mein Traum von einer perfekten Schule wäre, dass wir den Perfektheitsanspruch gar nicht haben! Eine Schule ist etwas, das Entwicklung bedeutet, Lebendigkeit, etwas, das vor Ort entwickelt werden muss von Lehrern, Schülern und Eltern. Ihnen sollte man die Macht und die Entscheidungsfähigkeit geben, um darüber zu bestimmen, wie ihre Schule sein soll. Je mehr Verantwortung sie haben, desto mehr werden sie diese auch annehmen. Bei allem, was ich an negativen Punkten genannt habe, da habe ich viel Vertrauen an die Menschen vor Ort.
Vielen Dank für das Interview!
Unser Experte
Professor Dr. Kersten Reich ist seit über drei Jahrzehnten Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Köln. Nach längeren Gastprofessuren in den USA und in China wurde er 2007 Leiter des Dewey-Centers Köln. Sein Forschungsschwerpunkt: Konstruktivismus- und Pragmatismusforschung sowie Internationale Lehr- und Lernforschung. Seit 2008 leitet er das BildungsRaumProjekt „school is open“, aus dem ein Schulgründungskonzept hervorgegangen ist: Die „Inkulsive Universitätschule Köln“ – eine Schule für Alle ohne soziale und geschlechtliche Ausschlüsse und mit umfassender Inklusion. Sie wird zum einen Experimentalschule mit eigenem pädagogischen Profil sein, zum anderen eine Wissenschaftliche Einrichtung der Humanwissenschaftlichen Fakultät. Beide unterliegen einer gemeinsamen Leitung und sind arbeitsbezogen und institutionell miteinander verknüpft.
www.schoolisopen.uni-koeln.de