Anja Melzer: Mauerfallkind
Es war Donnerstag, der 9. November 1989, in Westdeutschland. Draußen herbstlich kalt, meine Mutter hochschwanger. Mein Vater, gerade sein zweites Staatsexamen hinter sich und ein Bier in der Hand, klebte vorm Fernseher. Stuttgart spielte gegen den FC Bayern. Dieser Fußballabend sollte nicht nur das Leben meiner Eltern, sondern ganz Deutschlands verändern.
Im Laufe des Spiels begann eine Einblendung am unteren Bildschirmrand entlangzulaufen: Die Mauer sei offen. Reisefreiheit ab Mitternacht. Mein Vater staunte, meine Mutter stöhnte - die Wehen hatten eingesetzt. In der ARD verzögerten sich die Tagesthemen, die Wehenabstände dagegen wurden immer kürzer. "Es ist ein historischer Tag", sagte der Nachrichtensprecher, "Die Tore in der Mauer stehen weit offen." Bis zu dieser Nacht hatten meine Eltern immer in einem geteilten Land gelebt. Mein Vater legte eine Videokassette in den Recorder, um das Wunder festzuhalten, meine Mutter veratmete den Schmerz.
Das Band, gewissenhaft beschriftet mit "Geburt", zeigte mir in späteren Jahren jubelnde Ossis, die die Berliner Grenzübergänge fluteten, tanzende Menschen auf der Mauer. Als die Fruchtblase platzte, flackerten in den Fenstern der Stadt immer noch die Fernsehbilder, viele blieben wach. Die Welt feierte in diesen Morgenstunden des 10. November den Mauerfall, meine Eltern mich. (DER STANDARD, 6.9.2014)
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