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Einsamer Sessel im Staub der Alma Mater

Ansichtssache | Anja Melzer
 Die STANDARD-Serie führt diesmal in das Dachbodenlabyrinth der Universität Wien

Wien - "Zu sehen gibt es da oben nichts", sagt der Hauswart. Ein Archiv des Wissens würde man erwarten bei einer Dachbodenbegehung der Universität an der Wiener Ringstraße: meterlange, vollgestopfte Bücherregale, alte Karten, Globen und andere humanistische Fossilien.

Verstaubte, vergessene Räume unterm Dach eben, die vielleicht an die Zauberschule Hogwarts erinnern oder Geschichten erzählen von der Weisheit dieses altehrwürdigen Gebäudes. Mit 92.000 Studierenden ist die Alma Mater Rudolphina die größte und älteste Hochschule im deutschsprachigen Raum. Oben angekommen, ist klar: Staub gibt es. Genug. Man riecht ihn förmlich. Von Büchern keine Spur.

Das einzige Relikt aus früheren Zeiten: ein kaputter Sessel ohne Armlehnen, drapiert irgendwo zwischen Balken und Grundmauern. Ein paar Meter weiter liegt eine verwaiste Bierdose. Ob hier einst ein kauziger Professor mit Bart und Monokel in Ruhe sein Feierabendradler genoss? Oder doch erst gestern eine Dozentin mit Laptop, die WLAN, Bier und Einsamkeit kostete? Vergangenheit und Gegenwart scheinen sich in diesen Höhen zu verwischen.

Das monotone Rauschen der Belüftungsanlagen beherrscht die Dachräume. Es ist heiß und stickig, besonders in den Lichtschächten. Bretterwege und befestigte Gerüste führen durch das verwinkelte Geschoß und verbinden  die einzelnen Teile. Für den unbedarften Gast ist die Orientierung gar nicht so einfach.

Die Dachlandschaft umschließt die einzelnen Innenhöfe und den großen Arkadenhof im Zentrum der ab 1873 nach den Plänen des Ringstraßenarchitekten Heinrich von Ferstel erbauten Universität. Es fühlt sich an, als irre man durch ein Labyrinth. Einige Türen führen weiter, manche enden in einer Sackgasse, andere bleiben zu.

Verstaubte Dachluken lassen etwas Sonnenlicht herein. Manche davon sind geöffnet und offenbar willkommene Schlupflöcher für Tauben. Hin und wieder flattern sie unter den Dachbalken hindurch, als wollten sie zeigen, wer hier das Sagen hat.

Über Holzleitern gelangt man durch die Luken aufs Dach, wo mannshohe Skulpturen die Balustraden säumen. Die Figuren werfen strenge Blicke auf die Fassaden anderer Historismusbauten in der Nachbarschaft: Votivkirche, Rathaus, Burgtheater.

Dann verliert sich der Blick in den Häuserschluchten der Stadt. Wie meinte der Hauswart? Es gebe da oben nichts zu sehen? (Anja Melzer, DER STANDARD/derStandard.at, 22.7.2014)

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