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Ungültiger Doppel-Pass?

Angebliche Listen mit türkischen Wahlberechtigten gelangen an heimische Politiker. Daraufhin explodiert die Diskussion um illegale "Doppelstaatsbürger". Mehrere Tausend Austro-Türken dürften einen ungültigen österreichischen Pass mit sich führen. Was tun?


Alle wollen die Liste: Politiker, Journalisten, Behörden. Es geht um die Liste der wahlberechtigten Austrotürken, die kürzlich beim Erdoğan-Referendum erstellt wurde. Denn sie könnte möglicherweise Zigtausende entlarven, die eine illegale österreichisch-türkische "Doppelstaatsbürgerschaft" haben.

Peter Pilz sagt, er hat diese Liste aus vertrauenswürdiger Quelle. Eigentlich sei er ein bisschen unglücklich darüber, schließlich berge sie so viel Sprengkraft. Aber aus Verantwortungsgefühl habe er das öffentliche Kommando übernehmen müssen. Höchstwahrscheinlich war sich der grüne Politiker der Dramatik seines am Sonntag abgesendeten Tweets selbst nicht bewusst, als er auf Nachfrage einer Journalistin zurückzwitscherte: "Ich empfehle allen Betroffenen, die (verheimlichte) türkische Staatsbürgerschaft umgehend zurückzulegen." Ein Tipp übrigens, den Innenminister Wolfgang Sobotka schon länger unters Volk bringt. Und der gefährlich ist.

Denn das österreichische Staatsbürgerschaftsgesetz ist eindeutig: Wer eine fremde Staatsbürgerschaft nach Erhalt der österreichischen durch eigenes Zutun wieder annimmt, ohne sie legal verliehen oder von einem Elternteil vererbt zu bekommen, verwirkt automatisch die österreichische. Und das gilt nicht erst ab dem Moment, in dem die Behörden den Schwindel entdecken, sondern rückwirkend. Im konkreten Fall könnten möglicherweise Tausende Austrotürken seit Jahren von Gesetzes wegen keine österreichischen Staatsbürger mehr sein. Wer nun panisch den türkischen Pass abliefert, droht staatenlos zu werden.

Die aktuelle Angst scheint nicht unbegründet: In den vergangenen Tagen ist ein Wettlauf um öffentliche Androhungen und inszenierte Enthüllungen entbrannt. Während Innenminister Sobotka lautstark mit Verwaltungsstrafen von mehreren Tausend Euro für illegale Doppelstaatsbürger drohte, grinste plötzlich die Freiheitliche Partei in die Fernsehkameras: "Auch wir haben die Liste." Allerdings: Es muss sich um eine andere als die des Peter Pilz handeln, eine mit offenbar magischen Verwandlungskräften. Standen am Dienstag noch 46.000 türkische Namen darauf, wuchs die Liste über Nacht auf unerklärliche 62.000 an. Woher die FPÖ dieses Verzeichnis hat, wie authentisch die Auflistung ist und wer sich überhaupt darauf befindet, bleibt ihr Geheimnis. "Ein manipulierter Wisch", kommentiert Pilz.

Aber auch er verrät über sein Register nur wenig. Nur so viel: Er habe sich mit Ankara verbunden und das Werk verifizieren lassen. Es handle sich nach Abgleich zweifellos um das aktuelle Wählerverzeichnis zum Erdoğan-Referendum, betont er. Seine Liste ist deutlich umfangreicher als die Blau geleakte: 107.877 Namen stehen darauf. Doch auch hier gibt es noch Ungereimtheiten. Und Irritation in der eigenen Partei: "Dass Pilz derart enge Kontakte zu Erdoğans AKP pflegt, verwundert mich sehr", meint ein Kollege, der namentlich nicht aufscheinen will.

Diese Zahl wäre jedenfalls hoch brisant. Offiziell sind nämlich lediglich 93.000 Türken mit Wohnsitz in Österreich wahlberechtigt - weil sie die türkische Staatsbürgerschaft besitzen und volljährig sind. Die Differenz von etwa 15.000 Menschen könnte ein Hinweis auf illegale Pässe sein.

"Wir können auch ungeachtet dieser Listen davon ausgehen, dass sich eine hohe Dunkelziffer an Menschen in Österreich befindet, die die türkische Staatsbürgerschaft unerlaubterweise wieder angenommen haben und so keine österreichischen Staatsbürger mehr sind", sagt Ibrahim Basar, türkischer Jurist und Mitarbeiter der Wiener Kanzlei Nadja Lorenz. Und die somit unrechtmäßig einen österreichischen Pass mit sich führen. "Die eigentliche Tragödie dabei ist: Das betrifft nicht nur die damaligen Antragsteller, sondern auch Kinder und Kindeskinder, die die österreichische Staatsbürgerschaft durch Abstammung von ihren Eltern erworben haben." Dasselbe Problem soll in einer ebenso wenig erahnbaren Dunkelziffer auch Serben und Ex-Jugoslawen in Österreich betreffen.

Phantom-Bürger

Wie hoch die tatsächliche Zahl an unerlaubten austrotürkischen "Doppelstaatsbürgern" ist, weiß bis dato niemand. Untere Schätzungen bewegen sich im genannten Bereich von 15.000, die FPÖ spricht schon seit Langem von mindestens 50.000 Betroffenen. Kenner der türkischen Community setzen die Zahl sogar noch viel höher: Bis zu 80 bis 90 Prozent all jener, die innerhalb der vergangenen dreißig Jahre den österreichischen Pass entgegennahmen, könnten auch wieder in Besitz des türkischen gelangt sein. Und damit de jure Türken, also Drittstaatsangehörige sein. Auch der Besitz der sogenannten "blauen Karte", einer Art türkischer "Staatsbürgerschaft light" ohne Wahlrecht, ist mit dem österreichischen Pass nicht vereinbar.

Das alles hätte bürokratische Folgen ungeahnten Ausmaßes. "Wenn man das zu Ende denkt, wird es schwindelerregend", konstatiert der Wiener Rechtsanwalt Georg Bürstmayr. Dies würde nämlich nicht nur bedeuten, dass Zehntausende mit illegalem Aufenthalt und illegaler Beschäftigung fälschlicherweise als Österreicher registriert sind, sondern dass möglicherweise über viele Jahre zu Unrecht Familienbeihilfe, Arbeitslosenhilfe oder andere Leistungen bezogen wurden. "Die österreichischen Behörden wissen seit Jahren Bescheid, die kennen das Problem spätestens seit Mitte der 90er-Jahre", sagt Jurist Basar.

Doch wie konnte es eigentlich so weit kommen? "Die Türkei ist mit der Wiedereinbürgerung sehr locker umgegangen", sagt Basar, "seit Ende der Achtzigerjahre sollte eine Lobby für den EU-Eintritt aufgebaut werden." Dazu kommt die Weigerung türkischer Behörden zur Transparenz, sie unterliegen keiner Informationspflicht. So können Pässe unbemerkt wiedererlangt werden.

Das funktioniere im Allgemeinen folgendermaßen: Mit einer sogenannten Zusicherungsbescheinigung, die den österreichischen Pass bei Zurücklegen der bisherigen Staatsbürgerschaft verspricht, wendet man sich an die Vertretung des türkischen Innenministeriums und stellt ein Entlassungsansuchen. Mit dieser Entlassungsurkunde marschiert man zurück zu den österreichischen Ämtern und bittet um die Staatsbürgerschaft. Etliche aber dürften noch am Tag der Entlassungsurkunde - bedingt durch die Überzeugungsarbeit türkischer Behörden - mit ihrer Unterschrift umgehend den Wiedereintritt beantragt haben. Dieser letzte Schritt jedoch gelangt nicht an die österreichische Verwaltung. Was viele nicht wissen: Im selben Moment verfällt die just überreichte österreichische Staatsbürgerschaft.

Jurist Basar führt das Prozedere auf die Staatspolitik der Türkei zurück: "Diese Menschen wurden instrumentalisiert und zum Spielball der türkischen Politik - und jetzt zum Spielball der österreichischen Innenpolitik und des Anti-Erdoğanismus." Einige der Menschen, deren Name auf den Listen steht, dürften zudem bisher nichts von ihrer türkischen Staatsbürgerschaft gewusst haben. Weil sie Kinder waren oder die Türkei sie stillschweigend niemals aus dem Register ausgetragen hat. "Die Türkei spielt ein ganz mieses Spiel", sagt Pilz.

Noch haben weder die Landesbehörden noch das Innenministerium irgendwelche Namen. Anwalt Bürstmayr warnt: "Solange die Rechtslage so ist, kann das bloße Genanntwerden auf dieser ominösen Liste buchstäblich existenzbedrohend, wenn nicht sogar - vernichtend wirken." Gelangen die Landesbehörden bzw. in Wien die MA35, die für den Vollzug des Staatsbürgerschaftsgesetzes zuständig sind, an die Verzeichnisse, würde das bereits für einen Verdacht ausreichen, um sofort Feststellungsverfahren einzuleiten, bestätigt das BMI. Kontrollen an Flughäfen fänden bereits statt. Pilz kündigte an, die Namen erst dann weiterzugeben, wenn für die, die unverschuldet darauf geraten seien, rechtlich gesorgt ist. Die FPÖ hingegen werde in dieser Sache nicht lang fackeln, so Obmann Heinz-Christian Strache. Und dann?

Zuständig wäre das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - seit 2015 heillos überlastet. "Unsere Rechtslage hat dafür nicht vorgesorgt, an jedem einzelnen Fall hinge ein Rattenschwanz an Folgeverfahren, Rückforderungen und Verwaltungsstrafverfahren wegen illegaler Beschäftigung und Aufenthalt", fasst Bürstmayr zusammen. Dies sei in eventuell Tausenden Fällen administrativ nicht zu bewältigen. "Wer soll das denn jemals bearbeiten?"

Im Raum stehen verschiedene Lösungsszenarien. Besonders die Grünen und Teile der SPÖ fordern eine Stichtagsregelung, die es erleichtere, die österreichische Staatsbürgerschaft gegen Ablegen der türkischen unkompliziert wieder zurückzuerlangen. Minister Sobotka allerdings besteht auf dem Gesetz: "Es wird keine Amnestie geben." Wer den österreichischen Pass danach wieder möchte, müsste auf der Integrationsleiter wieder ganz unten beginnen.

Die Rolle der Austrotürken bei Wahlen könnte das Land noch bewegen. Ibrahim Basar: "Das sind auch demokratiepolitisch extrem gravierende Probleme, man könnte eigentlich ab jetzt jedes künftige österreichische Wahlergebnis anfechten."

Run auf die Konsulate?

Gerüchteweise drängen in den letzten Tagen Dutzende Betroffene in die türkischen Generalkonsulate in Wien, Salzburg und Bregenz, um die Staatsbürgerschaft zurückzulegen. Die Verunsicherung sei immens, bestätigen Migrantenvereine, viele neigten zu Kurzschlusshandlungen. Die Problematik hat nun auch prominente türkische Medien erreicht. In Wien schweigt die konsularische Dependance auf News- Nachfrage zur aktuellen Lage. Auskünfte zu Staatsbürgerschaftsbelangen seien grundsätzlich und ausschließlich über die Pressestelle des türkischen Außenministeriums in Ankara zu erlangen. Aber man könne es ja mal auf Englisch versuchen.

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