„Du nahmst ganz einfach meine Hände, und ich ließ es geschehen”, klingt Vicky Leandros’ Schlager aus einem Lautsprecher. Ilse schließt die Augen, der blonde Matthias flüstert ihr Sachen ins Ohr, die alte Frau lächelt wie ein junges Mädchen. Er hält sie im Arm, das Publikum hält die Luft an, ein Herr ganz besonders, denn der durfte vor dem Showdown nicht auf die Toilette gehen. Ilse sieht glücklich aus. „Ich hab dich nicht gekannt, und doch ging ich mit dir”, singt Vicky weiter, und Matthias strahlt sein schneidendes Nordseelächeln. „Traust du mir zu, dass ich dieses Geschenk auch für die anderen habe?” Ilse nickt wie eine Wackelfigur auf der Heckablage im Auto. „Sechzehn Achtzig! Na, ist das was? Das hat der Matthias für euch erreicht! Ihr habt es euch verdient! Die Firma Güldenmoor schenkt euch einen Zuschuss von 1500 Euro für die Rückentherapie! Einen ganz großen Applaus bitte!” Alle klatschen, Herr S. darf endlich „in die Kachelausstellung”, wie Matthias die Toilette nennt, die Musik wird abgedreht, sechs alte Leute werden „Die Gela-Chotin 90 Tage Kur” und die „Vitalstoff Therapie Bio Fermenta von Güldenmoor” für je 1680 Euro erstehen und sich beschenkt fühlen. Bei beiden handelt es sich um ein Sammelsurium aus Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen. Vergleichbare Präparate sind in der Apotheke für 30 Euro zu haben.
Weder Ilse noch die anderen Senioren wirken unvernünftig. Sie sind derEinladung zu einer Kaffeefahrt gefolgt und wollen sich einen netten Ausflug und ein paar Sachen schenken lassen. Manchen wurde die Verlosung eines „LCD-Fernseher der neuesten Generation” versprochen, andere sollten einfach nur ihren Gewinn von 1598 Euro abholen und ein Delikatessen-Schlemmerpaket überreicht bekommen, „Ehepaare garantiert die doppelte Menge”. Freut euch auf ein ausgiebiges Frühstück mit allem drum und dran und später Musik und Tanz. In der herrlichen Region Starnberger See. Aber nicht jedes Lamm ist einem Spielenachmittag mit Wölfen gewachsen. Verkaufsleiter Matthias Bornemann, so stellt er sich vor, hat ordentlich Kreide gefressen. Helfer Christoph mit Elvistolle, einigem Goldschmuck, Cowboystiefeln und formvollendeten Koteletten hält meist die Klappe und kassiert.
Ilse G. und ihr Mann Peter machen sich also um 6:00 Uhr auf den Weg zur angegebenen Haltestelle im Norden von München. Bis alle Teilnehmer abgeholt sind, vergehen drei Stunden. Um 10:30 Uhr kommt der Bus voller erschöpfter Gewinner im Gasthaus „Zum Bayerischen Löwen” in Bichl bei Bad Tölz an. Waren sind wie Geburtstagsgeschenke ausgestellt, die Frühstückstische gedeckt: Ein Brötchen für jeden, ein Klecks Marmelade, je eine Scheibe Wurst und Käse. Eine Tasse dünnen Kaffee. Kein Schnickschnack, jede weitere Tasse Kaffee kostet 1,80 Euro.
„Wollen wir heute freundlich, höflich und respektvoll miteinander umgehen?” „Ja, wir wollen!” Alle sprechen nach, was „der” Matthias verlangt. Ilse und Peter stimmen in den Chor der guten Kunden ein. Sie wollten einfach mal raus aufs Land, die Enkel sind in den Ferien, sie haben Zeit. Man hätte die ganze Truppe allerdings auch in einer Tiefgarage absetzen können, denn den Verkaufsraum werden sie erst acht Stunden später verlassen, um die Rückfahrt anzutreten. Draußen scheint die Sonne.
Bornemann stellt die Produkte vor, die er verschenken will: den Werkzeugkoffer, die Stereoanlage, die Küchenmaschine zum Beispiel kriegen aber nur Leute, die auch etwas kaufen, versteht sich. Durch die teuren „Geschenke” würden die Reisen und die Nahrungsergänzungsmittel zu einmaligen Schnäppchen. Die Produkte sind von der Firma Imwalle, die Billigware speziell für Kaffeefahrt-Veranstalter beschafft und schon durch gefälschte Prüfzeichen aufgefallen ist.
„Es gibt Leute, die sehe ich immer wieder, die nehmen unsere schöne Fahrt und die gute Leberwurst mit, aber sie kaufen nie etwas! Sie müssen uns schon wenigstens mit kleinen Dingen unterstützen! Ich vermerke das auf euren Teilnahmescheinen!” Wenigstens Wollwaschmittel sollen alle kaufen, zehn Euro der Liter Seifenwasser, auch von Imwalle. Dann hebt Bornemann langsam ab. „Ihr könnt nächstes Jahr verreisen, und von mir kriegt ihr heute das Geld dafür! Das hört sich doch toll an, oder?! Ihr kriegt für eure Reise von mir 300 Euro geschenkt und ein Überraschungspaket obendrauf. Glückwunsch und Applaus!” Mehrere Personen buchen überteuerte Reisen nach „in der Nähe von”, kein Storno möglich. Mitarbeiter Christoph kassiert gleich mal Vermittlungsgebühren, das geschenkte Geld gibt es in Form von billigsten Imwalle-Produkten. Ilse und Peter, beide alt und krank, freuen sich auf Busreisen nach Dresden und Amalfi Ende 2012 und über den 189-teiligen Werkzeugkoffer.
Sobald die Reisen gebucht sind, kann man auf die Gebrechen kommen. Menschen mit schlimmen Rücken liegen dem Matthias am Herzen, die tun ihm richtig Leid. Er führt eine Wärmematte vor. Seine ganze Familie und er selbst – obwohl er erst in den Vierzigern ist – lebt praktisch auf der Wärmematte, so muss man sich das vorstellen. „Was da grün leuchtet, das ist das Sikalit, der Punkt, der da rot leuchtet, ist das Magon, da ist einer, zwei, drei, vier, fünf Stück sind das jetzt. Es müssen immer fünf Stück sein. Wärmetherapie ohne Strom. Die Körperwärme wird von dieser Therapie reflektiert und als Tiefenwärme ins Gewebe zurückgegeben. Ist Tiefenwärme gesund? Ja!” Was in der Demomatte farbig leuchtet, ist die Taschenlampe von Bornemann. „Jetzt sprecht mir alle nach: Magon!! Sikalit!!” Der Saal brummt: „Magon!! Sikalit!!” Die Rentner üben das eine Weile, bis es begeistert genug klingt, und applaudieren dann. Sie fragen nicht, was Magon oder Sikalit ist und wie lange die Wärme vorhält. „Wer volles Vertrauen zu mir hat, kann eine Matte bekommen. Ich werde euer Vertrauen nicht enttäuschen!! Noch jemand mit vollem Vertrauen??” Die Plastiksitze gehen zum Supersonderpreis von 49,90 an zwöf ausgewählte Teilnehmer, Christoph kassiert. Applaus.
„Wer sein Gebiss zuhause vergessen hat, soll lieber die Buletten nehmen.” Die Kaffeefahrer sind dankbar für solche Witze und dafür, dass um halb drei endlich das Essen kommt. Danach sind sie müde und etwas schwurbelig im Kopf vom Bornemannschen Dauergedöns. Sie fühlen sich verstanden, man kennt ihre Leiden, ihren Wunsch, endlich einmal etwas geschenkt zu bekommen in ihrem Leben. Es naht der Moment, mit den Nahrungsersatzstoffen von Güldenmoor richtig Kasse zu machen. In den zwei Stunden bis zum Showdown darf niemand zur Ruhe kommen. Bedenken werden durch Trotz ersetzt: „Ihr müsst doch nicht eure Kinder um Erlaubnis fragen, wenn ihr es euch schön machen wollt, das ist doch lächerlich! Ihr habe es euch verdient!!” „Wir haben es verdient”, schallt es aus der Gruppe zurück. Die Leute sind seit zwölf Stunden unterwegs. Draußen werden die Schatten länger. Der Wirt weigert sich zu kassieren, bevor die Veranstaltung zu Ende ist. Bornemann schwafelt fröhlich von der guten alten Zeit, in der vor allem das Essen besser war. Schmeckt doch nicht mehr, was? Was kann da schon drin sein? Ihr habt es doch alle an den Gelenken! Die alten Knochen, die tun euch doch weh! Das Glukosamin in der Gela-Chotin Kur hilft, eure Gelenkflüssigkeit und die Knorpel wieder aufzubauen! Gönnt euch diese Therapie! Und dann wird es richtig teuer: Sechzehn Achtzig, wie Bornemann die eintausendsechshundertachtzig Euro verharmlost. „Da haben wir etwas! Da könnt ihr euch so richtig etwas Gutes tun!” Was genau in den Produkten von Güldenmoor drin ist, will niemand mehr wissen, Matthias ist nett und macht es ganz, ganz kurz. Die Gruppe verharrt in einem Zustand zwischen Erschöpfung und wohligem Vertrauen. Zeit, den Sack zuzubinden.
Ilse und Peter G. sitzen brav und aufmerksam nebeneinander, Matthias geht auf sie zu. „Jetzt bist du fällig, Ilse”, sagt er und führt sie nach vorne. Applaus, bitte. 47 Kaffeefahrer klatschen. „Du nahmst ganz einfach meine Hände und ich ließ es geschehen”, klingt Vicky Leandros’ Schlager aus einem Lautsprecher. Ilse schließt die Augen.
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Verantwortlich für die Veranstaltung zeichnete die Apollo Vertriebs GmbH aus Bregenz, die wegen ihrer dubiosen Geschäftsgebaren immer wieder einschlägig auffällt. In Bichl und Kochel allerdings werden die Kaffeefahrten von Bürgermeister und Gewerbeaufsichtsamt toleriert.
Täglich sind 400 Kaffeefahrten-Busse in ganz Deutschland unterwegs. 85 Prozent der Teilnehmer kommt immer wieder mit. Bei einer Besucherzahl von 4,5 bis 5 Millionen wird ein Jahresumsatz von bis zu 500 Millionen Euro angenommen, berichtet der Branchenverband Bund der Vertriebsfirmen. Die Deutsche Post hat in Cloppenburg eigens eine Filiale gebaut, die nur mit dem Versand der Gewinnbriefe beschäftigt ist. Aussteiger berichteten bei Sat 1 von Jahresverdiensten der Werbesprecher von 150000 bis 200 000 Euro im Jahr.