Die Geschichte des Knienden Aktes, die viele Anfänge und vielen Enden hat, würde heute nicht erzählt werden, wenn Arne Körtzinger nicht seinen Keller aufgeräumt hätte. Um Weihnachten 2020 herum muss das gewesen sein, erzählt der Kieler Meeresforscher am Telefon. Und dabei fiel ihm dieses Bild in die Hände, ungerahmt und vergilbt, es war ihm vorher nie aufgefallen. "Ich muss zugeben", sagt Körtzinger, "ich fand es nicht spektakulär schön." Interessant aber ist der Kniende Akt auf jeden Fall, denn eines erkennt Körtzinger sofort und nicht erst an der leserlichen Signatur: Sein Großonkel hat das nicht gemalt.
2005 erbte Arne den Nachlass und das Atelier von Hugo Körtzinger, einem Mann, der als Maler und Bildhauer weitgehend unbekannt blieb, es aber als Retter und Bewahrer der "entarteten" Kunst zu einiger Bedeutung brachte. Dieser Großonkel des Meeresforschers lebte und arbeitete in Schnega im , unweit von Uelzen.
Die von ihm selbst entworfene und 1937 fertiggestellte Arbeitsstätte, die Hugo Körtzinger hinterließ, ist eindrucksvoll: eine backsteinerne, spitzgiebelige Werkstatt von gut 100 Quadratmetern Grundfläche, inklusive der ebenfalls eigens für ihn angefertigten Walcker-Orgel. Die größte in Privatbesitz befindliche Orgel immerhin des Wendlands, vielleicht Deutschlands. Finanziert wurde all das durch das Mäzenatentum des Zigarettenfabrikanten und Kunstsammlers Hermann F. Reemtsma, dessen persönlicher Kunstberater Körtzinger war.
"Das Erbe von Hugo Körtzinger", sagt Arne Körtzinger, "umfasste ein großes Konvolut an Objekten, über 50 Gemälde und Zeichnungen, darunter auch defekte und nicht fertig gestellte, Hunderte Briefe, Hunderte Bücher, wenige Plastiken ..." Nach dem Krieg fanden sich auf dem Anwesen auch zahlreiche Werke anderer Künstler, insbesondere von Ernst Barlach, aber auch von Käthe Kollwitz oder Max Liebermann. "Ein fast schon unfassbar hochkarätiges und facettenreiches Museum ohne Besucher", müsse das vor 1945 gewesen, sagt Arne Körtzinger. Zum Zeitpunkt als er sein Erbe antritt, sind die Fremdarbeiten aber längst zurückgegeben.
Um Arbeiten des Großonkels restaurieren zu lassen, transportiert Arne Körtzinger immer wieder Bilder von Schnega nach Kiel. "Das von Partikel", sagt er, "muss da irgendwie dazwischen gelandet sein." Auf der Rückseite des Knienden Aktes entdeckt Arne Körtzinger, wie er sagt, verdächtig viele Nummern und Aufkleber. Einer davon weist es als Eigentum der Nürnberger Gemäldegalerie aus. Körtzinger, der sich in den vergangenen Jahren als Vorsitzender eines Fördervereins, der das Atelier in Schnega wiederbelebt (unter anderem mit Geldern der Reemtsma-Stiftung im Übrigen), intensiv mit der Geschichte seines Großonkels beschäftigt hat, kann sich vorstellen, warum es dieses Gemälde ins Wendland verschlagen hatte.
Eine kurze Recherche bestätigt seinen Verdacht. Alfred Partikels Kunst galt den Nazis, zumindest in Teilen, als "entartet". Am 23. August 1937 beschlagnahmten die Nationalsozialisten Kunst aus der Nürnberger Gemäldegalerie darunter Arbeiten von Georges Grosz, Otto Dix und Ernst Barlach. Dass die Stadt zu der Zeit überhaupt einen derart eindrucksvollen Bestand besaß, hatte sie ihrem bis 1933 amtierenden Oberbürgermeister von der Deutschen Demokratischen Partei zu verdanken. Dem, wie Arne Körtzinger, aber das ist nun wirklich ein Zufall, aus Kiel stammenden Hermann Luppe.
Als Andreas Curtius im Frühjahr dieses Jahres ein Anruf erreicht, plant der Kurator der Nürnberger Kunstsammlungen gerade eine Ausstellung mit dem Titel Luppes Galerie. Die Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg in der Weimarer Republik. In den Datenbanken der Nürnberger Kunstsammlungen kann er den Weg des Partikel-Bildes bis 1937 nachvollziehen. Er wäre hoch erfreut, lässt Curtius Körtzinger wissen, wenn er das Bild in die Ausstellung mit aufnehmen könnte. Körtzinger hat ohnehin bereits beschlossen, es den Nürnbergern zu schenken.