Die Morde an über tausend indigenen Mädchen und Frauen wurden jahrzehntelang geleugnet. EMMA hat die Frauen getroffen, die für Aufklärung kämpfen.
von Alexandra Eul
Ich möchte, dass Kanada und dass die ganze Welt erfährt, wie sehr ihr uns gegenüber versagt habt, wie sehr ihr Jennifer gegenüber versagt habt", sagt Pfarrerin Bernice Catcheway in die Kamera. Dann bricht Jennifers Mutter in Tränen aus. Auch Jennifers Vater Wilfred, ihre Schwestern, der Bruder, seine Frau und Jennifers Freundinnen weinen. Es ist die blanke Verzweiflung, die sich an diesem Freitag im Herbst 2017 in einem zeremoniell geschmückten Konferenzraum in Winnipeg, Manitoba, Bahn bricht.
Die Catcheways sind nicht die einzige indigene Familie in Kanada, die Gerechtigkeit fordert. Ihre Tochter Jennifer ist eine von tausenden, vielleicht abertausenden indigenen Mädchen und Frauen, die ermordet wurden oder als verschwunden gelten. Justin Trudeau ist der erste Premierminister in der Geschichte des Landes, der direkt nach seiner Wahl im Jahr 2015 eine offizielle Untersuchung versprochen hat. Im ganzen Land finden seit September Anhörungen statt, in denen Betroffene berichten. Das epidemische Ausmaß der Frauenmorde wurde jahrzehntelang geleugnet. Frauen wie Bernice Catcheway brechen ein doppeltes Verschweigen: Sie klagen nicht nur die nicht-indigenen Kanadier und mit ihnen die kanadische Justiz an - sondern auch die Männer ihrer eigenen Communities.
Zum Beispiel Jennifer Catcheway. Ihre Mutter Bernice hatte 2008 alles für den 18. Geburtstag der Tochter vorbereitet. Das Grillfleisch war eingelegt, die Getränke standen kalt. Dann kam der Anruf. Jennifer meldete sich aus dem 430 Kilometer entfernten Ort Grand Rapids, wo sie mit einem Schwager und einem weiteren Mann unterwegs war. Sie sei aber schon auf dem Rückweg nach Portage La Prairie, versprach die Tochter. Aber Jennifer kam nicht.
Nach fünf Tagen ging die Mutter zur Polizei. Die Szene, die sich dort abspielte, schildert Bernice auf der Anhörung in Winnipeg so: „Wie alt war ihre Tochter denn?", fragte der Kommissar. „Sie ist gerade 18 Jahre alt geworden", antwortete Bernice. „Geben sie ihr eine Woche, sie ist sicher nur auf einer Sauftour!" lautete die Antwort des Kommissars. Sodann schickte er Bernice nach Hause. Als zwei Wochen später eine Frau anrief, deren Schwiegersohn zwei Männer beobachtet hatte, die in der Nähe des Highway 6 Kleidung verbrannten, riet die Polizei: „Glauben sie der Frau nicht, sie ist uns als Trinkerin bekannt!" Auf dem Highway 6 war Jennifer verschwunden.
Zu diesem Zeitpunkt hatten die Catcheways schon selbst mit der Suche begonnen. Sie durchforsteten die Wälder und Sümpfe in der Umgebung, sie durchwühlten Müllhalden mit einem Bagger und verteilten Plakate mit einem Porträt von Jennifer: Ein bildhübsches Mädchen mit langen schwarzen Haaren. Und: Die Eltern fanden den Aschehaufen der verbrannten Kleidung genau an der Stelle, die die Frau am Telefon beschrieben hatte.
Auch die Polizei hatte die Ermittlungen wegen Mord aufgenommen. Halbherzig, wie die Familie erfuhr. Es gab zwar eine Liste an verdächtigen Personen, aber die wurden nicht einmal verhört. Nach neun Jahren suchen die Catcheways immer noch. Nach ihrer Tochter, nach Antworten. Die Mutter, der Vater, die Geschwister, sie alle sind gebrochen. „Sie war doch so ein gutes Mädchen", weint Bernice. „Sie ist doch auch ein Mensch!" (...)