Ein Huhn auf dem Großstadtbalkon halten? Darauf sind tatsächlich Menschen gekommen, um der Lockdown-Einsamkeit zu entfliehen. Jetzt werden massenhaft Tiere abgegeben - und die Tierheime sind überfüllt. Eine Videoreportage von Alexander Schmitt und Sarah Seitz
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Klingt wie auf dem Bauernhof, ist aber im Tierheim. Neben Massen von Welpen aus dem illegalen Online-Handel machen verstoßene Hähne und Hühner den Großteil der kürzlich aufgenommenen Tiere im Hamburger Tierheim aus. Eine skurrile Nebenwirkung der Pandemie.
Dr. Urte Inkmann, Tierärztliche Leitung Hamburger Tierschutzverein:
»In der Corona-Pandemie haben viele Leute einfach so Sehnsucht nach wieder so einem bodenständigen, ländlichen Leben gehabt und in dieser Situation sind viele Leute auf die Idee gekommen, sich Hühner anzuschaffen. Wir sind hier überflutet worden mit Hähnen, die abgegeben wurden, weil die ganze Nachbarschaft sich beschwert hat. Einige haben sich auf Balkonen Hühner gehalten, teilweise sogar in Blumenkästen und haben sich überhaupt nicht vorher informiert, was sind die Bedürfnisse von Hühnern.«
Während der Pandemie haben sich viele Menschen ein Haustier zugelegt: Nach Angaben des Industrieverbands Heimtierbedarf gibt es einen Zuwachs von einer Million im Vergleich zum Vorjahr. Viele Besitzer merken jetzt aber: Die Anschaffung war gar keine so gute Idee, das Tier muss wieder weg.
Hester Pommerening, Deutscher Tierschutzbund e.V.:
»Die wenigsten Leute geben zu, dass sie jetzt wirklich so ein Corona-Projekt-Haustier wieder loswerden wollen. Da werden dann oft Allergien vorgeschoben, die plötzlich aufgetreten sind oder die Tiere werden eben wirklich einfach ausgesetzt. Da wird dann nur über das Alter der Tiere klar: Okay, die sind in den letzten anderthalb Jahren angeschafft worden, während Corona. Das sind wahrscheinlich solche Spontankäufe gewesen, die jetzt einfach im Weg sind, wo die Lockerungen wieder da sind.«
Pandemie-Lockerungen, Urlaub und Schulferien – jetzt fehlt es so manchem Neubesitzer an Zeit fürs Tier. Viele haben aber auch schlicht keine Ahnung, wie sie mit den Tieren umgehen sollen.
Dr. Urte Inkmann, Tierärztliche Leitung Hamburger Tierschutzverein:
»Also es gibt tatsächlich Anfragen, dass Leute sagen: Ähm, ja. Der Tierarzt hat meine Krankenkassenkarte gar nicht genommen. Wer soll das jetzt bezahlen? Also man muss sich ja über diese ganzen Dinge, wenn man sich ein Tier anschafft, vor der Anschaffung im Klaren sein. Und man muss sich auch im Klaren sein, dass so ein Tier fünfzehn, sechszehn, zwanzig Jahre leben kann.«
Fehlende Verantwortung, Gedankenlosigkeit und Unwissen bringen die Tierheime an ihre Belastungsgrenzen. Das Problem hat aber auch eine politische Ebene. Denn die Abgabewelle kommt nicht ganz unerwartet.
Hester Pommerening, Deutscher Tierschutzbund e.V.:
»Was wir auch schon seit Jahren fordern, ist, dass die Tierheime natürlich mehr Unterstützung erfahren, durch die Kommunen. Also dass da im Grunde auch die Politik einen Fördertopf bereitstellt, für die Tierheime, die ja öffentliche Aufgaben des Staates und der Kommunen und der Städte übernehmen. Im Grund müssen die Tierheime ja auch ausbaden, was von der Politik schon auf der anderen Seite nicht präventiv verhindert worden ist.«
Auch das Hamburger Tierheim leidet unter den Versäumnissen der Politik. Die Stadt sieht ihre finanziellen Pflichten durch bestehende Verträge gedeckt. Laut Tierheim ist die Finanzierung aber jedes Jahr unsicher. Ein baufälliges Katzenhaus und der illegale Online-Handel spitzen die Lage weiter zu – die Corona-Projekt-Haustiere kommen obendrauf. Deshalb stand das Tierheim schon kurz vor dem Annahmestopp für Neuankömmlinge, der immer noch nicht endgültig abgewendet ist.
(15.08.2021)
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