Wo noch immer der Weltkrieg tobt
Bevor die niederösterreichische Landeshymne ertönt, sagt es Leopold Cermak noch einmal ganz deutlich: »Ich bitte um Verständnis, dass militärische Zwänge oft wichtiger sind als Anliegen der Aussiedler.« Nach dem Satz scheint die andächtige Stille auf dem Friedhof Döllersheim plötzlich elektrisch geladen. Was Brigadier Cermak, der Kommandant des Truppenübungsplatzes Allentsteig, in seiner Ansprache gesagt hat, weiß man ja ohnehin, hat es seit Jahrzehnten zu spüren bekommen. Musste es denn noch einmal ausgesprochen werden? Es ist, als hingen empörte Zwischenrufe in der Luft, die gleich auf den rundlichen Mann in Winteruniform, der zwischen den Gräbern in ein Mikrofon spricht, niederprasseln werden. Der Unmut macht sich aber erst nach Ende der Zeremonie Luft, nach der Kranzniederlegung und dem Gedenkgottesdienst, als Cermak es nicht mehr hören kann. Die Menschen stehen in Grüppchen beieinander, kommentieren teils fassungslos, teils belustigt, was sie gerade gehört haben.
Jedes Jahr am Allerseelentag wird hier, am Rande des größten Truppenübungsplatzes Österreichs, der Zwangsausgesiedelten gedacht. 7.000 Menschen hatten ihre Heimat verloren, als am 21. Juni 1938 mit dem Federstrich eines Befehls der deutschen Wehrmacht dort ein Schießplatz entstand, wo sich zuvor 42 Waldviertler Dörfer befanden: Äpfelgschwendt, Edelbach, Klein Motten, Groß Poppen, Perweis, Strones, Wurmbach. Und eben Döllersheim, die ehemals größte Ortschaft der Gegend. Nur die kleine Kirche und der Friedhof sind davon übrig geblieben. Sie gehören seit 1981 offiziell nicht mehr zum Sperrgebiet, sondern sind zu einer geisterhaften Gedenkstätte für die Tausenden Waldviertler, die einst Haus und Hof verloren haben, geworden.
Fünfzig Jahre üben nun schon österreichische Soldaten auf dem Truppenübungsplatz, den hier alle nach seinem Akronym nur »Tüpl« nennen. Als die sowjetische Besatzungsmacht 1955 abzog, kam die Idee auf, das geschundene Gelände wieder zurück in Bauernland zu verwandeln. Die Vertriebenen wurden ermutigt, Rückerstattungsanträge für ihren verlorenen Besitz zu stellen. Doch zwei Jahre später entschied die Republik, die Aussiedler hätten kein Anrecht mehr auf ihren früheren Besitz. Im Mai desselben Jahres wurde das entsiedelte Areal zwischen Zwettl, Horn und Waidhofen/Thaya endgültig dem Bundesheer übergeben.
Die Vertriebenen, ihre Nachkommen und alle, denen das düstere Kapitel nicht gleichgültig ist, treffen sich zu Allerseelen in der einsamen Pfarrkirche im ehemaligen Döllersheim. Mehrere Hundert sind in diesem Jahr wieder gekommen, Männer und Frauen, die meisten von Alter und Gebrechen gebeugt. Einer ist Leopold Topf. Bis 1940 besuchte er in Döllersheim die Schule, die direkt neben der Kirche stand. Er erinnert sich noch an die »wunderschöne Orgel« in der Pfarrkirche, deren Pfeifen später – nach 1945 – als Dachrinnen herhalten mussten.
Topf erinnert sich auch daran, dass auf dem alten Döllersheimer Friedhof die Großmutter Adolf Hitlers begraben liegt: Maria Anna Schicklgruber, geboren 1796 in Strones, im heutigen Sperrgebiet. Das jüngste Grab gehört Karl Fröschl, gestorben 1993, bestattet mit einer Ausnahmegenehmigung des Heeres. Der blinde Fleischhauer habe damals in Döllersheim »einen Besitz von zehn Millionen Schilling« gehabt, erzählt Topf. Entschädigung habe er vom Staat keine bekommen: »Null Komma Josef.«
In der bis auf den letzten Platz gefüllten eiskalten, kahlen Pfarrkirche wird die Messe gelesen. Danach Kranzniederlegung, zwischen Soldaten, die mit dem Gewehr im Anschlag zu beiden Seiten des Kreuzes bei Nieselregen und scharfem Wind angetreten sind. »Wer schätzt den Frieden mehr als die, die ihn erhalten?«, mit diesem Spruch wirbt das Heer für sich. Das Plakat hängt in der Nähe der Tüpl-Verwaltung.
In den vergangenen 25 Jahren hat sich der Heimatforscher mit der Geschichte des Tüpl befasst. Mit Sondergenehmigungen suchte er unbeirrt nach Grabstellen, Marterln, Kapellen – nach dem, was noch zu retten gewesen wäre. Eine großer Teil der alten Ortschaften hatte den Krieg überlebt, denn die Wehrmacht verschonte die meisten Häuser. Unter sowjetischer Verwaltung verkamen die Geisterdörfer zu Baustofflagern, in denen sich jeder ungestraft bedienen konnte. Erst das Bundesheer selbst, schreibt Müllner in seinem Buch Die entweihte Heimat, habe das Kulturgut ab 1960 »dem beschleunigten Verfall preis« gegeben: durch die Beschießung und Sprengung von Kirchen und Friedhöfen im Sperrgebiet.
Tüpl-Kommandant Cermak widerspricht: »Wir haben keine Sakralbauten beschossen. Denn hier gibt es weder Friedhöfe noch Kirchen. Es ist ein militärischer Übungsplatz, der 1938 profaniert wurde.« Soll heißen: Seit die Gebäude von den Deutschen offiziell umgewidmet wurden, handle es sich bloß noch um aufgetürmtes Gestein, das jede sakrale Bedeutung verloren habe. »Das erzählen sie uns immer«, erregt sich Pfarrer Müllner. »Weil sie eh schon alles zusammengeschossen haben.«
Zwei Wochen vor Allerseelen, Fahrt mit dem Bundesheer-Jeep ins Sperrgebiet. Rot-weiß-rot bemalte Fässer, auf lange Stangen montiert, markieren seine Grenze, beschrankte und unbeschrankte Postenhäuschen, Schilder: »Betreten verboten! Lebensgefahr! Fotografieren, Filmen und Zeichnen gesetzlich verboten und strafbar!« Am Steuer des Jeeps Hauptmann Arno Haslacher, im Zivilberuf Förster. Er ist hier für den Naturschutz zuständig. Ein Mann für ein Gebiet in der Größe von Liechtenstein.
Braucht ein kleines, neutrales Land, das die Truppenstärke seiner Armee stetig abbaut, tatsächlich ein Manöverfeld von 157 Quadratkilometern Größe? »Das ist die unterste Grenze«, sagt Haslacher. »Wenn hier eine Brigade heraufverlegt wird, die das Zusammenspiel der Waffengattungen üben soll, dann geht sich’s gerad noch aus, dass die vordersten Teile was machen können. Die logistischen Einheiten müssen sowieso außerhalb disloziert sein.« Am liebsten hätte das Bundesheer wohl einen noch größeren Übungsplatz: denn die Panzer schießen immer weiter, die Sicherheitsradien werden immer größer.
Trotz Bombendetonationen, Panzermanövern und Schießübungen gehören aber zwei Drittel des Sperrgebietes zu einer Zone namens »Natura 2000«. Mit diesem Begriff weist die EU Naturschutzgebiete aus. Dort, wo früher die kleine Ortschaft Germanns lag, haben Biber einen Bach aufgestaut und unter der Straße einen Tunnel durchs Erdreich gegraben. Ein kleiner Teich hat sich gebildet. Nadelgehölz im Hintergrund, darauf der Zuckerguss des ersten Schnees. Ein Seeadler kreist über einem schier endlosen Feld. Im Hintergrund, nur mit dem Fernglas erkennbar, eine Rotte Wildschweine. Der Übungsplatz als Idyll. Kein Laut ist zu hören im weitläufigen Hügelland, kein Mensch zu sehen. An 220 Tagen im Jahr wird hier geschossen, gesprengt, gebombt mit fast allen Waffengattungen, die das Heer zu bieten hat. An 220 Tagen pflügen Panzerketten und Granaten den Boden, bahnt sich die Infanterie Wege durchs Gelände. An diesem Tag nicht.
Am verschneiten Weg parkt ein Zivilfahrzeug. Darin ein dick vermummter Mann mit Feldstecher in der Hand, eine Videokamera auf dem Beifahrersitz. Er observiert seit Stunden einen großen Vogelkäfig mit 14 Birkhühnern, die gerade in die Freiheit entlassen werden. Die äußerst sensiblen Tiere sollen als »Stützpopulation« den abnehmenden Birkhuhnbestand auf dem Tüpl vergrößern. Hier, an einem der größten Truppenübungsplätze Europas, leben die letzten Birkhühner außerhalb des alpinen Raums. Dabei heißt es unter Jägern: Einmal in die Hände klatschen, und ein Birkhuhn fällt tot um. Das Kalkül des Bundesheers: Wo das scheue Birkhuhn sich wohlfühlt, können andere gefährdete Arten problemlos überleben. Der Mann mit Feldstecher ist ein Mitarbeiter der biologischen Station Wilhelminenberg. Was er sieht, scheint ihm zu gefallen. Die Birkhühner, in aller Frühe aus Bayern eingetroffen, gewöhnen sich an ihre neue Umwelt. Im Frühjahr wird sich zeigen, ob sie balzwillig sind. Es wäre ein außerordentlicher Erfolg – für den Naturschutz und für das Image des Bundesheers.
Ausklang der Gedenkveranstaltung bei Punsch und Blasmusik. Abschiednehmen bis zum nächsten Jahr. Im Juni 2008 wollen die »Freunde der Alten Heimat« – eine Organisation der vertriebenen Waldviertler – mit einem Symposion des Wehrmachtsbefehls von 1938 gedenken. Dass Döllersheim 1981 aus dem Sperrgebiet ausgegliedert wurde, war auch das Verdienst des Vereins. Der damalige Obmann hieß Heinrich Stangl, heute führt sein Sohn den Verein. Er spricht von einer »Wunde im Waldviertel« und wählt seine Worte mit Bedacht. Welches Verhältnis hat der Verein zum Bundesheer, das so stolz ist auf seine friedens-, denkmal- und birkhuhnerhaltenden Maßnahmen? »Wir arrangieren uns. Mir ist es lieber, dass hier ein demokratisch legitimiertes Heer übt als eines, das das Gelände auslöscht, um einen verbrecherischen Krieg vorzubereiten.«
Auch Leopold Topf, der in Döllersheim zur Schule ging und nun in Horn wohnt, macht sich auf den Heimweg. »Bis nächst’s Johr!«, verabschiedet sich ein Bekannter. »Jo, wenn ma dann no do san«, antwortet der alte Döllersheimer.