Alles lebt, sagt der Shintoismus, auch das Neonlicht. Für Alexander Krex eröffnet die Suche nach der Seele in den Dingen eine neue Sicht auf Tokio.
Durch die Fenster fällt letztes Tageslicht in den Waggon, es flackert im Takt der vorbeiziehenden Hochhäuser. Ich sitze in der Bahn und sehe lauter Lichter angehen: Tokio starrt aus Zehntausenden Augen. Zwischen den Blöcken maßlose Werbetafeln, sie blähen sich auf, sie schrumpfen zusammen wie ein Urzeitwesen. Und mit jedem Halt schwappt eine andere Melodie herein, eine akustische Visitenkarte, mit der sich jede Station mir vorzustellen scheint.
Wie sich die Wahrnehmung verändert, wenn man den Gedanken zulässt, alles sei beseelt. Als hätte sich die Welt vor meinen Augen zerlegt und neu zusammengesetzt, als läge nun das wahre Tokio vor mir.
Der Shintoismus, Japans Ur-Religion, basiert auf der Idee, Schöpfer und Schöpfung seien eins. Gott sei in allem, und in allem sei Geist. Mich fasziniert die Vorstellung, dass es auf der Erde keine seelenlosen Dinge gibt. Gerade weil sie mir so fremd ist, weil im Westen so genau unterschieden wird zwischen lebendig und leblos, Geist und Materie. Während meiner Tage in Tokio will ich einmal versuchen, dieses duale Denken hinter mir zu lassen. Sicher wird mein Blick aus Gewohnheit oft an der Oberfläche abrutschen, so als fehlte mir im 3-D-Kino die richtige Brille, doch bestimmt werde ich etwas von dem Tokio erkennen, in dem alles, wirklich alles lebt.
Acht Millionen Gottheiten, heißt es, besiedeln die Glaubenswelt des Shinto: die Kami. In den altjapanischen Mythen sind sie Berg, Wald, Küste, Meer, verschmelzen Ort und Geist zu einer Einheit. Eine einsame, vom Wind gebeugte Schwarzkiefer auf einem Felsvorsprung über dem Ozean ist so ein Flecken, seit Jahrhunderten tuschen die Japaner das Motiv auf Reispapier. Tokio dagegen wirkt erst einmal wie ein geistloser Moloch, zu hoch, zu schnell, zu grell. Für den Shintoismus jedoch sind die Kami auch hier zu Hause, inmitten der hyperaktiven Stadt.
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