Aus nahezu jeder Perspektive erblickt man in Warschau das ungeliebteste Geschenk Polens. 237 Meter übereinander geklotzter Sandstein ragen seit den 1950er Jahren am zentralen Plac Defilad in den Himmel der polnischen Hauptstadt. Der Palast der Kultur und Wissenschaften, kurz Kulturpalast, war ein „Geschenk der Sowjetunion an die Volksrepublik Polen". Ein Geschenk, das sich niemand gewünscht hatte.
Fast vier Jahrzehnte lang erinnerte der Monumentalbau das stolze Land täglich an die Fremdbestimmung durch den großen Bruder, die Sowjetunion. Heute beherbergt er mehrere Museen und Bibliotheken, Cafés, Konferenzräume, ein alternatives Kino und die bei Touristen beliebte Aussichtsplattform im 30. Stock. Die Warschauer haben sich das Mahnmal ihrer Unterdrückung zurückerobert.
Die Fussball-EM als Wendepunkt
Im malerischen Abendlicht kommt eine junge Frau Richtung Haupteingang geeilt. Schwarzes Etuikleid mit dezentem Pailettenbesatz und farblich passenden Ballerinas. Eine Flieger-Sonnenbrille in das wallende braune Haar gesteckt, um den Hals eine schwere schwarze Spiegelreflexkamera. „Sorry, der Warschauer Verkehr...", grinst sie vielsagend und verschwörerisch. Zu spät kommen gehört in Warschau fast zum guten Ton.
Die dreißigjährige Aleksandra Łogusz wohnt seit gut drei Jahren in der Stadt. Vorher lebte sie einige Jahre auf dem Balkan und studierte in den USA. Während der Fußball-EM 2012 arbeitete sie als Reporterin für den polnischen TV-Sender Polsat. „Das war ein Wendepunkt. Nicht nur für Warschau, sondern für ganz Polen", beschreibt sie das Lebensgefühl dieses Fussballsommers.
Wie viele Polen und Ausländer erlebte sie eine Stadt, die sich nach grauen Jahrzehnten der bleiernen Schwere als fröhliche, weltoffene Metropole präsentierte. „Aber ich habe fast jeden Tag gearbeitet, auch am Wochenende. Frei hatte ich nur unter der Woche, da haben alle meine Freunde gearbeitet", erzählt sie, während sie den Fahrstuhl im Inneren des Palastes betritt. Also habe sie „angefangen, die Stadt zu erkunden. Kleine und große Ausflüge" gemacht. Die hielt sie als Andenken mit ihrer Handykamera fest, irgendwann mit der Spiegelreflexkamera ihres Vaters.
Von Schnappschüssen zum „Foto des Jahres"
„Vielen Dank, auf Wiedersehen", verabschiedet sie sich polnisch höflich von der Fahrstuhldame und tritt auf die Aussichtsplattform im 30. Stock des Kulturpalastes. „Hier war ich seit Jahren nicht mehr", kichert sie über die Ironie des Umstands. Denn ihr Hobby führte sie immer häufiger auf die Dächer der unzähligen Plattenbauten Warschaus.
Dort entdeckte Aleksandra fasziniert ganz neue Perspektiven auf ihre Wahlheimat. Da seien „zum Beispiel die vielen Grünflächen, die in der Wahrnehmung der Polen gar nicht so verankert sind." Die denken an Warschau als grau-braune Stadt. Dabei ist das wahrscheinlich eine der grünsten Hauptstädte Europas", jauchzt sie und deutet gen Südosten, wo sich ein Park an den nächsten reiht. In der Tat gibt es nur in Berlin mehr Quadratmeter Grünfläche je Einwohner. In Warschau verstecken sich diese nur hinter den unzähligen Plattenbauten.
„Ich habe dann auch bei Gebäuden angefragt, die eigentlich nicht zugänglich sind und durfte dann auf Bürogebäude und Hochaus-Baustellen, selbst in die unfertige Metro unter der Erde", erinnert sie sich, an der Balustrade der Aussichtsplattform lehnend, den Blick auf die neue Skyline der Stadt gerichtet. Die Kamera dabei immer im Anschlag für den nächsten Schnappschuss.
Aleksandra postete ihre ungewöhnlichen Stadtansichten in sozialen Netzwerken, vor einem Jahr eröffnete sie ein kleines Blog. Und ihre Bilder trafen einen Nerv. Tausende Menschen folgen ihrer Seite mittlerweile. Im Frühjahr wurde eines ihrer Motive zum „Foto des Jahres" gekürt und Anfang Juli eröffnete Aleksandra ihre erste eigene Ausstellung in der Altstadt.
Nun wird sie ins Fernsehen eingeladen und dort als Fotografin angekündigt. „Verrückt, wie schnell das alles ging" sagt sie kopfschüttelnd und das erste Mal merkt man, dass ihr der ganze Trubel etwas unangenehm ist. „Ich habe das nie gelernt, fotografiere einfach drauf los", sagt sie schließlich achselzuckend.
Botschafterin des neuen Warschaus
Dabei seien die Reaktionen durchweg positiv, weiß Alexandra zu berichten. „Eine Exilpolin schrieb mir aus den USA. Sie war seit dem Krieg nicht mehr hier. Wegen meiner Bilder wolle sie nun her kommen." Aleksandra grinst zufrieden in den Sonnenuntergang, zieht immer wieder die Kamera hoch und schießt schnell drei, vier Bilder.
Dabei redet Aleksandra quasi ununterbrochen. Sie gestikuliert mit beiden Händen, wirft die Haar von links nach rechts und zurück. Wenn sie sich über etwas aufregt, stampft sie auf. Auch einige Schimpfwörter mischen sich in die zitierfertigen Sätze der ehemaligen Journalistin. Man weiß nicht genau, ob es ihre Dynamik ist, die sich auf ihre Bilder überträgt oder andersherum sie die Kraft dieser Stadt aufsaugt. Wahrscheinlich beides.
Aber Aleksandra sieht sich auch auf einer Mission. Sie will den Warschauern und Polen zeigen, wie sich die Stadt verändert. „Wenn ich nach fünf bis sechs Monaten wieder auf ein Dach komme, steht gegenüber plötzlich ein neuer Wolkenkratzer ".
Doch Warschau genießt im Rest des Landes keinen besonders guten Ruf. Groß, klotzig, kapitalistisch, ätzt man außerhalb der Hauptstadt. Aber „narzekać", das gepflegte Meckern und Lamentieren ist ein von den Polen innig gepflegtes Kulturgut. „Ich will den Leuten sagen: Du meckerst die ganze Zeit. Aber du hast so viele neue Orte, Attraktionen, Möglichkeiten. So viel passiert gerade!"
Eine Stadt erwacht zum Leben
Warschau ist das unangefochtene wirtschaftliche Zentrum Polens, doch auch seine Kunst- und Kulturszene ist äußerst vital. „Und das kulturelle Leben ist nicht teuer. Es gibt viele kostenlose Veranstaltungen", meint Aleksandra. Sie käme selber kaum mehr aus der Stadt raus, weil sie ständig neue Ausstellungen und Konzerte besuche. In Warschau fände jeder seine Nische, sagt sie: „Das mag sehr optimistisch sein, aber das ist meine Meinung. Wir sollten uns über diese Dynamik freuen, auch wenn es noch viel zu tun gibt."
Da sei zum Beispiel das Flussufer, meint Alexandra: „Das war über Jahrzehnte eine vergessene, verödete Gegend. Jetzt ist das ein Ort, wo sich das ganze Leben hinbewegt. Im Sommer können wir uns gar nicht mehr vorstellen, dort nicht mehr hinzugehen." In Polen sei der Winter sehr lang, deswegen nölten die Menschen auch so viel, witzelt Aleksandra. Aber im Sommer findet das gesamte öffentliche Leben in Warschau draußen statt: in den Parks und Innenhöfen, auf den Boulevards und Plätzen, in den unzähligen Cafés und Kneipen der Hauptstadt.
Heute ziehe es die Menschen viel stärker ins Grüne als früher, meint Aleksandra: „Die Leute fahren Fahrrad, treffen sich am Fluss, gehen mit ihren Hunden spazieren. Überall liegen sie auf ihren Decken. In westlichen Großstädten ist das schon lange so. Hier muss man die Leute daran erinnern, dass das nicht immer so gut funktioniert hat."
Der Fluss war bis vor wenigen Jahre eine Kloake, das Ufer komplett verwildert. Dass es trotz des Hypes immer noch fast unbebaut ist, macht die Weichsel aber immer noch zu einem einzigartigen Biotop für Naturfreunde und Partywütige. Und auch die Wasserqualität verbessert sich langsam. Der Fluss erwacht seit einigen Jahren zu neuem Leben.
Die Bürde der nationalen Tragödie
Sie lässt den Arm erneut über das Stadtzentrum schweifen. „Trotz der Geschichte hat sich vieles so wunderbar entwickelt. Nicht nur hier in Warschau, sondern im ganzen Land. Aber in dieser Stadt natürlich ganz besonders." Sie blickt nun so ernst, wie nie an diesem Abend. Jeder Pole weiß, warum. Denn „die Geschichte", das ist ein außerhalb Polens fast vergessenes Kapitel der Warschauer Historie, ohne das man das Warschau von heute nicht versteht.
In Sommer 1944 wagten die Warschauer einen Aufstand gegen die blutige deutsche Okkupation. Auch, weil sie die nahende Rote Armee und eine erneute Besatzung des Landes fürchteten. Doch Hitler ließ den Aufstand mit unbeschreiblicher Brutalität niederschlagen. 150.000 Zivilisten ermordete die SS in ihren Vergeltungsaktionen, 60.000 innerhalb der ersten Tage. Danach sprengte sie die Stadt systematisch.
Als die Rote Armee im Februar 1945 in die Stadt einrückte, waren 95 Prozent der Gebäude zerstört. Wen die Deutschen nicht deportiert hatten, der war geflohen. In den Trümmern der einstigen Millionenmetropole hausten gerade noch 1.000 Menschen. Warschau war eine Geisterstadt. Nie zuvor oder danach in der europäischen Geschichte wurde eine Großstadt komplett ausradiert. Doch die Polen bauten sie wieder auf.
„Die Polen haben ein sehr starkes historisches Bewusstsein. Manchmal glaube ich, das ist so tief verwurzelt, dass sie vergessen, was heute ist", sagt Aleksandra nachdenklich. Es fiele den Menschen immer noch schwer, den Aufschwung der letzten Jahre zu genießen. Sie hätten ihn ja auch früher haben können. Doch die Geschichte hätte sie zu Opfern gemacht. Das sitzt tief.
Glitzernder Boom statt grauer Bankrott
Nach dem Krieg folgten fast fünf Jahrzehnte sowjetischer Fremdbestimmung. Als Polen 1989 unabhängig wurde, war Warschau grau und heruntergekommen, das Land rückständig und bankrott. Es folgte eine schmerzhafte und bis heute viel diskutierte Politik der extremen Liberalisierung und Privatisierung. 1998 trat das Land der NATO bei, 2004 der Europäischen Union. Seitdem erlebt Polen ein kleines Wirtschaftswunder und Warschau blüht wieder auf.
„Oft denke ich darüber nach, wie mein Leben aussehen würde, wenn wir diesen Systemwechseln nicht gehabt hätten", murmelt Aleksandra und fotografiert schweigend die vollkommen überfüllte Verkehrskreuzung „Centrum", einen gordischen Verkehrsnoten aus Autos , Bussen und Trams. In der ersten Zuschauerreihe stehen hunderte ameisengroßer junger Warschauer vor dem zylinderförmigen Gebäude der PKO-Bank. Die „Rotunda" ist einer der beliebtesten Treffpunkt für abendliche Verabredungen.
Auf der Plattform drehen noch einige versprengte Touristen und Hobbyfotgrafen ihre Runden. „Mich bewegt das sehr, dass ich in Europa ohne Pass reisen kann, wohin es mich zieht", greift Aleksandra ihren Gedanken wieder auf. Und dann sei da ja noch die Ukraine. Tragisch, aber auch ein mahnende Erinnerung für Polens Glück.
Das ukrainische Schicksal als Mahnung
Große Teile der heutigen Ukraine waren bis zum Krieg polnisches Territorium. Beide erlangten nach dem Fall des eisernen Vorhangs gleichzeitig die Unabhängigkeit, auch das Wirtschaftsniveau war ähnlich miserabel. „Dennoch haben sich unsere Wege in einem bestimmten Moment stark getrennt", rekapituliert Aleksandra die vergangen 25 Jahre. „Und ich schätze es sehr, dass wir uns nach Europa orientiert haben." Europa betont sie dabei besonders, fast zärtlich. So wie es Menschen tun, die immer noch an die verbindende Kraft dieser Idee glauben.
„Aber die Unterschiede zwischen Polen und der Ukraine sind heute...". Aleksandra stockt, verwirft sichtlich eine fertig formulierte Einschätzung. Nach einigem Überlegen folgt ein knappes „heute kann man das nicht mehr vergleichen. "In ihrem Blick mischen sich Erleichterung, Mitgefühl und das Wissen, dass es auch hier hätte anders laufen können.
Das unendliche Klischee
Doch die Klischees und Stereotypen vom Entwicklungsland und seiner hässlichen Hauptstadt hielten sich hartnäckig, vor allem im Ausland. „Da laufen doch überall Ratten rum und des gibt kein warmes Wasser", höre sie immer noch von Menschen, die noch nie in Polen gewesen seien. Bei einer WG-Party sei das gewesen, kurz vor der EM. „Schau hier, das ist ein Kühlschrank, da lagern wir unser Essen drin", imitiert sie nun das gebrochene Englisch ihrer Gesprächspartnerin. Es war eine Deutsche.
„Pfff", schnauft Aleksandra und verdreht die Augen. Sie, die mehrere Sprachen spricht, wirkt jetzt selber herablassend, aber auch ein bisschen angefasst. „Länder, die nicht so eine schwere Geschichte hatten, haben uns lange mit Herablassung angeschaut." Doch auch das ändere sich langsam.
Der Tourismus nimmt stetig zu. Viele kämen ohne ein Bild von dem Land nach Polen: „Die stellen sich irgendein Loch vor und erleben ein modernes, schönes Land, in dem viel Spannendes passiert." Und natürlich würden sich die stolzen Polen über die neue Anerkennung freuen, meint Alexandra. Lange hätte den Polen „diese positive Meinung von uns selbst gefehlt."
Der Turbo-Kapitalismus als Happy End
„Schau", ruft Aleksandra schon wieder entzückt und zeigt auf ein tiefes quadratisches Bauloch an der Haupteinkaufsstraße Marszalkowksa. „Da bauen sie gerade ein riesiges Kaufhaus mit allem Drum und Dran. Weißt du, was da früher war?" Ohne die Antwort abzuwarten, redet sie weiter: „Kurz nach dem Ende der Sowjetunion hat da 1992 der erste McDonalds Polens eröffnet. Um den ganzen Block standen die Leute an für einen Burger. Manche sind extra deswegen nach Warschau gekommen."
Der Convenient-Burger in der Pappschachtel als kulinarische Offenbarung und Versprechen auf ein besseres Lebens. „Gerade mal 25 Jahre ist das her", betont Aleksandra jedes einzelne Wort und blickt noch eine Weile entrückt auf die in der Abendhitze flirrenden Dächer, glitzernden Fassaden und hektische Betriebsamkeit zu ihren Füßen. Zufrieden packt sie die Kamera ein und entschwindet in die junge Nacht.