Paris. Brüssel. Berlin: In Deutschland und Europa häufen sich Terroranschläge. Und viele Menschen haben Angst. Angst vor dem Islam, Angst vor Geflüchteten, Angst, das nächste Opfer zu sein. Statistisch gesehen ist diese Angst unbegründet. Gleichzeitig hat die islamistische Radikalisierung von Jugendlichen in Deutschland allerdings tatsächlich zugenommen. Hassprediger und zwielichtige Hinterhof-Moscheen sind Realität. Nicht flächendeckend, es sind aber auch keine Einzelfälle. Der Psychologe, Präventionsarbeiter und Autor Ahmad Mansour spricht in diesem Zusammenhang von der Generation Allah.
Alle Fälle haben eines gemein: am Anfang steht die Radikalisierung. Für mich, Adrian Breda, ist das schwer zu begreifen: Dass Jugendliche innerhalb weniger Monate zu eifernden Salafisten werden, Freunde und Familie hinter sich lassen, ein komplett neuer Mensch werden. Genau darum geht es in dieser Multimedia-Reportage. Wie kann es sein, dass 16-Jährige freiwillig den IS unterstützen? Welche Rolle spielen Propaganda-Medien bei der Radikalisierung? Wie soll die deutsche Gesellschaft mit IS-Rückkehrern umgehen? Um Antworten zu finden, habe ich über mehrere Monate Experten sowie ehemaligen Salafisten interviewt, die aus erster Hand berichten können. Sie alle sind sich einig: Es ist enorm wichtig, sich mit diesen Fragen auseinander zu setzen, denn die Angst vor der Radikalisierung verändert die Gesellschaft grundlegend - sei es in Form von Smartphone-Überwachung zur Terrorabwehr oder in Form des Erstarkens der AfD, die aus der Verunsicherung politisches Kapital schlägt.
Junge, Alte, Menschen mit Migrationshintergrund oder „Biodeutsche": Islamistische Radikalisierung ist ein Phänomen, das in allen gesellschaftlichen Gruppen vorkommt.
"Für mich gab es damals nur schwarz und weiß, gläubig oder ungläubig." Musa Schmitz, ehemaliger SalafistDennoch gibt es verbindende Merkmale. Genau genommen sind die Fälle oft sogar schockierend ähnlich: Radikalisierte stammen entweder aus sehr autoritären Familien mit einer übermächtigen Vaterfigur. Oder sie wachsen ohne jeglichen familiären Zusammenhalt auf - meist ohne Vater. Was die beiden Gruppen eint: Ihre Angehörigen sind labile, frustrierte Personen mit geringem Selbstwertgefühl. Und die radikal-religiösen Verführer sind erfolgreich: Alleine aus Deutschland haben sich mindestens 760 Personen nach Syrien oder in den Irak begeben, um dort für den IS zu kämpfen. Neuere Schätzungen gehen gar von bis 1800 Ausreisern aus. Darüber hinaus beschäftigt das Phänomen bereits die deutsche Justiz: Laut Welt am Sonntag sind 2017 mehr als 800 Strafverfahren mit Bezug zu radikalen Islamisten eingeleitet worden - im Jahr davor waren es noch 250.
Einer von denen, die sich radikalisiert haben ist Musa Schmitz, der 2007 innerhalb weniger Monate zum radikalen Salfisten geworden ist. Bevor es so weit kam, hieß er Dominic Schmitz - seinen neuen Namen Musa (deutsch: Moses) erhielt er von Pierre Vogel, dem bekanntesten Salafistenprediger in Deutschland.
Für Sven Lau, ebenfalls radikaler Salafist und Gründer der Scharia-Polizei, produzierte Musa Schmitz religiöse Propaganda-Videos. Heute ist er kein Salafist mehr, denn er hat den Ausstieg geschafft. Im Interview erzählt Musa Schmitz, wie er sich Stück für Stück radikalisiert hat und und wie er damals die westliche Gesellschaft gesehen hat.
detektor.fm: Wie hast Du als Salafist die westliche Gesellschaft gesehen?
Im absoluten Höhepunkt des dogmatischen Denkens war mein Weltbild absolut bipolar: Es gab nur schwarz und weiß, gläubig und ungläubig und gut und schlecht. Das war auch von Anfang an s0, allerdings wurde das Feindbild immer deutlich, nämlich ein ganz klares Gefühl von wir und ihr. Am Anfang hatte ich noch das Gefühl, es gebe ein Miteinander, relativ schnell wurde mir dann aber klar: Es gibt - vielleicht - ein Nebeneinander. Irgendwann fühlte es sich dann nach einem Gegeneinander an. Ich war zu der Zeit total aggressiv und hatte ständig das Gefühl, ausgegrenzt zu werden, ein Opfer zu sein, von allen gehasst zu werden. Und das nicht aufgrund meiner Person, sondern wegen meiner Religion. Ich habe in allen einen Feind gesehen und überall eine Verschwörung gewittert. Und der größte Feind waren damals natürlich die USA und Israel. Und das, obwohl ich - lustigerweise - bis dato überhaupt noch nie mit einem Amerikaner oder Juden gesprochen hatte. Der Westen war damals für mich nichts anderes als Pornografie, Drogen, Spielsucht, Prostitution, Fremdgehen und FKK - also moralisch total verwerflich und heuchlerisch - einfach eine kriegstreibende Macht, die in unseren muslimischen Ländern die Bodenschätze abbaut.
Du hast von „unseren muslimischen Ländern gesprochen". Das heißt: Du hast dich gar nicht mehr als Deutschen gefühlt, sondern in erster Linie als Muslim?Ja, das kann man auf jeden Fall so sagen. Für mich war klar: Ich bin in aller erster Linie Muslim. Natürlich, ich bin auch irgendwie Deutscher, aber ich habe schon gedacht, dass ich eigentlich viel lieber Araber wäre. Ich wäre gerne in einer arabischen Familie großgeworden und hätte diese familiäre Atmosphäre und den Zusammenhalt gerne als Kind gespürt.
Wie war Dein Leben, bevor du Salafist wurdest?Ich habe mit 16 gerade noch die Mittlere Reife auf einer Gesamtschule geschafft, allerdings zum Ende hin schon ziemlich viel geschwänzt. Und dann habe ich das Fachabitur angefangen, allerdings relativ schnell wieder abgebrochen. Mein Lebensinhalt bestand dann darin, Drogen klar zu machen - also Gras. Und dann den ganzen Tag kiffen und frustriert sein. Außerdem habe ich viel Rap gehört und selbst Texte geschrieben. Ansonsten habe ich ziemlich viel Zeit alleine verbracht und bin in Selbstmitleid zerflossen.
Als ich dann 17 war, Sommer 2005, stand ein alter Bekannter von mir vor meinem Fenster. Und der hatte früher genau so gelebt wie ich: Seine Leidenschaft war Rap, er hat gekifft, Sex vor der Ehe gehabt und Alkohol getrunken. Dieser Bekannte war zwischenzeitlich allerdings für ein Jahr spurlos verschwunden. Ich habe ihn jedenfalls hereingebeten, ihm einen Joint angeboten und Rap angemacht. Die neuesten Lieder kannte er allerdings nicht und den Joint wollte er auch nicht. So hat sich dann im Laufe des Gespräches ergeben, dass er jetzt gläubiger Muslim ist und ein rechtschaffener Gläubiger sein möchte.
Wie verlief dann die eigentliche Radikalisierung?Durch diesen Bekannten bin ich dann in die Moschee eingeführt worden. Da war ein kleines Grüppchen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sehr streng waren und schlichtweg so sein wollten wie der Prophet. Ich wusste natürlich noch nichts über den Propheten, aber ich wurde gleich in diese Gruppe aufgenommen und fühlte mich direkt wohl dort. Irgendwann habe ich den Entschluss gefasst, dass ich da richtig dazugehören möchte. Das heißt: kein Kiffen mehr, das Gebet erlernen und so weiter. Das waren die ersten Dinge, die vor meiner Konversion eintraten. Mein Leben als gläubiger Muslim war dann strukturiert durch die fünf Gebete pro Tag. Wobei ich mich damals zwar Muslim genannt habe, den Islam aber in seiner vollen Palette gar nicht kennengelernt habe, sondern eine sehr spezielle Form, nämlich den Salafismus. Jedenfalls hat sich mein Alltag an den Gebeten orientiert. Darüber hinaus gab es noch weitere Regularien, bei denen ich mich angepasst habe. Es fing damit an, kein Gel mehr in die Haare zu schmieren und ging weiter über die Essgewohnheiten: Ich habe kein Schwein oder Gelantine mehr gegessen, dafür kamen fremde Dinge dazu wie Datteln.
Nach und nach habe ich dann das Gebet sowie Koran-Suren auswendig gelernt und sehr viel gelesen - was ich vorher nie gemacht habe. Ich konnte jedenfalls relativ schnell mehr aus dem Koran auswendig als viele Türken oder Araber aus meinem Freundeskreis. Ich habe auch schnell auch auf Kleinigkeiten geachtet, wie zum Beispiel mit dem linken Fuß in das Badezimmer zu gehen und mit dem rechten wieder hinaus. Den Kontakt zu meinen alten Freunden habe ich nicht wirklich abgebrochen, aber ausklingen lassen. Ich hatte ja eine neue „Familie", neue „Freunde" - zu den alten Freunden habe ich den Kontakt nicht mehr gepflegt, und sie genau so wenig. Ich habe mich sehr stark an den „Brüdern" orientiert, die eine Art Familienersatz waren, und da war Sven Lau - gerade am Anfang - wie ein großer Bruder für mich: Ein Deutscher, genau wie ich, der etwas älter war und schon vieles kannte, was ich gerade erlebte. Pierre Vogel war damals noch relativ unbekannt - er hatte zwar schon die ersten DVDs rausgebracht, aber niemand kannte Pierre Vogel. Und Sven Lau übrigens schon gar nicht.
Nach vielen Jahren hat Musa Schmitz erkannt, dass das salafistisches Weltbild nicht mit seiner eigentlichen Vorstellung von Religiösität und gesellschaftlichem Zusammenleben vereinbar ist. Trotzdem holt ihn seine Vergangenheit gelegentlich ein - etwa in Stadtteilen, in denen er viele radikale Muslime vermutet. So blickt er sich nach dem Interview, das in Düsseldorf stattfindet, mehrere Male um, scannt regelrecht die Umgebung, weil er keinem „alten Bekannten" begegnen möchte. Drohungen aus der Salafisten-Szene sind für ihn keine Seltenheit. Aus diesem Grund hält er auch seinen Wohnort geheim. Das gleiche gilt für Claudia Dantschke: mehrmals bittet die Radikalisierungs-Expertin im E-Mail-Austausch vor dem Interview, ihre Adresse nicht weiterzugeben. Zu groß sei ansonsten die Gefahr - auch sie ist bereits bedroht worden.
"Die IS-Propagandavideos sind im MTV-Style produziert und erinnern an Sprüche aus dem Poesie-Album." Claudia Dantschke, Islamismus-Expertin„Die Wirkung von Propagandamedien kann für die islamistische Radikalisierung nicht überschätzt werden", sagt Claudia Dantschke. Seit zehn Jahren arbeitet sie mit Familien, deren Kinder sich islamistisch radikalisiert haben. Die Bandbreite reicht dabei von Jugendlichen, die ankündigen, nach Syrien auszureisen zu wollen, um dort den IS zu unterstützen, bis hin zu denjenigen, die bereits dort sind und nun wieder zurück möchten. Eine effektives Instrument der Radikalisierung ist der sogenannte Pop-Dschihadismus. Dabei werden bekannte Symbole, Filme, Lieder oder gar Computerspiele wie World of Warcraft dazu verwendet, Jugendliche zu radikalisieren. Man könnte auch sagen: Die Radikalisierer sprechen die Sprache der Jugend und vermitteln so effektiv ihre Ideologie. Was genau es mit dem Pop-Dschihadismus auf sich hat, erklärt Claudia Dantschke im Gespräch.
Radikale Prediger haben längst erkannt, wie effektiv aufwändige Propaganda-Videos sind. Ästhetisch orientieren sie sich an Hollywood-Blockbustern: schnelle Schnitte, optimale Ausleuchtung, professionelle Drehbücher. Gerade dadurch sind die Clips und Bilder für viele Jugendliche so reizvoll. Besonders deutlich wird dies im Kontrast zu älterem Propagandafilmen. Denn bis vor wenigen Jahren waren die Videos amateurhaft produziert: ungeschnittene Monologe von religiösen Fanatikern, die sich über Stunden hinziehen. Dazu ein sechs Jahre altes Beispiel von Pierre Vogel, dem bekanntesten Salafisten in Deutschland:
Heute sind die Propaganda-Videos deutlich aufwändiger produziert. Besonders professionell sind die Filme des Islamischen Staates, der nicht nur spezielle Nachrichten-, sondern auch Medienagenturen betreibt. Ihre Aufgabe ist es, möglichst viel Propagandamaterial - insbesondere Musikvideos - zu produzieren. Im Netz findet man leicht beispielsweise Videos vom bekannten Salafisten Denis Cuspert aka Deso Dogg.
„Auf dem Wege Gottes" - so lässt sich der Titel des Musikvideos Fisabilillah übersetzen. Tatsächlich geht es darin jedoch nicht um Religion, sondern um Enthauptungen, Terroranschläge und vermeintliche Märtyrertode. Das Video richtet sich an zwei Gruppen: Einerseits an die deutsche Gesellschaft, die - neben den USA - als klares Feindbild gezeichnet wird. „Die deutschen Schläfer warten" - mit Zeilen wie dieser soll die Angst vor Terroranschlägen nach Deutschland getragen werden. „Der [...] Guerilla(kämpfer) besetzt tendenziell den Raum, um später das Denken gefangen zu nehmen, der Terrorist besetzt das Denken, da er den Raum nicht nehmen kann", besagt eine klassische Terrorismus-Definition des Radikalisierungs-Experten Franz Wördemann. Und genau darum geht es im Video: Das Denken der Deutschen mit der Angst vor Anschlägen zu besetzen - obwohl diese Angst statistisch gesehen unbegründet ist.
"Der Terrorist besetzt das Denken, da er den Raum nicht nehmen kann." Franz Wördemann, Journalist und SachbuchautorAnderseits richten sich die Videos an diejenigen, die mit dem IS sympathisieren und daher zum Ausreisen bewegt werden sollen. Unbekümmert lächelnde Kämpfer und einzelne Tränen, die beim Abschied vergossen werden: Mit diesen profanen Bildern, die die Washington Post als „ mittelalterliche Reality-Show " bezeichnet, soll das Leben beim IS normalisiert werden. Einige Sequenzen vermitteln fast den Eindruck, es handele sich lediglich um ein Abenteuer-Ferienlager: Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, wilde Landschaften, martialische Kriegsspiele in der Wüste.
Ähnlich perfide sind die Inhalte im IS-Magazin Rumiyah. Neben Instruktionen, wie ein Anschlag mit einem LKW zu organisieren ist, findet sich auch eine Werbung für eine App, mit der Kinder Arabisch lernen sollen. Fast surreal mutet der Hinweis „ Choose your target " (deutsch: Wähle dein Ziel" an, der neben stilisierten Wahrzeichen der USA, Grossbritannien, Frankreich und Russland zu sehen ist.
Die Beispiele werden hier aus zwei Gründen gezeigt: Erstens ist es wichtig, die Materialien zu kennen und zu verstehen, wie sie funktionieren. Nur auf diese Weise ist es möglich, sie zu erkennen und - falls nötig - dagegen vorzugehen. Der zweite Grund ist der gewichtigere: Das Propaganda-Material ist überraschend leicht im Internet zu finden. Wenige Klicks genügen, schon kann man sehen wie Menschen vom IS enthauptet oder bei lebendigem Leib verbrannt werden. Aus diesem Grund zirkulieren Videos auf den Smartphones vieler Jugendlicher in Deutschland. Nicht unbedingt, weil sie mit dem IS sympathisieren, sondern auch aufgrund des „Reiz des Verbotenen". Anders gesagt: Propagandamaterialien machen niemanden zum Fanatiker, können diesen Prozess aber beschleunigen und verstärken.
Die Debatte um Radikalisierung und Terrorismus ist dominiert von Vorurteilen, politischer Instrumentalisierung und Unwissenheit. Nichtsdestotrotz bestimmt sie den medialen Diskurs. Die zahllosen Talkshows zum Thema zeigen: Die Deutschen haben eine irrational starke Angst vor islamistischem Terror und Ausländern.
2007 hatte die deutsche Bevölkerung noch am meisten Angst vor einem Anstieg der Lebenshaltungskosten, gefolgt von Naturkatastrophen und der Sorge, im Alter zum Pflegefall zu werden. Dabei ist eines klar: Statistisch gesehen ist die Angst vor Terroranschlägen unbegründet. In den letzten 20 Jahren kamen 44 Menschen bei terroristischen Anschlägen ums Leben, 20 davon gehen auf das Konto der NSU-Terroristen. Durch Terroranschläge verletzt wurden insgesamt 154 Personen. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum kamen 106.566 Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben, die Wahrscheinlichkeit ist also fast 700 mal höher.
Ein Blick über Deutschland und Europa hinaus zeigt: Gefährlich ist es tatsächlich dort, wo die meisten Flüchtlinge herkommen, nämlich Syrien, Irak und Afghanistan.
Auch die Wahrnehmung, die meisten Terroristen seien Ausländer ist lediglich eine gefühlte Wahrheit. Tatsächlich ist es so, dass die meisten terroristischen Anschläge von Deutschen begangen werden.
Es gibt ebenfalls keine Invasion von „Terror-Flüchtlingen". Laut Berliner Zeitung sind den Behörden etwa 40 Fälle bekannt, in denen islamistische Terroristen als Flüchtlinge getarnt nach Europa eingereist sind. Der mit Abstand größte Teil der Terroristen ist jedoch in Europa aufgewachsen, hat sich dort radikalisiert und war bereits vor dem Anschlag als Gefährder bekannt. So gab es bereits mehr als ein Jahr vor dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz konkrete Hinweise auf einen geplanten Terroranschlag. Seit Dezember 2015 ist der spätere Attentäter, Anis Amri, überwacht worden, wie Die Welt berichtet.
Überraschend ist, aus welchen Ländern besonders viele Radikalisierte ins IS-Gebiet eingereist sind. Für Europa beläuft sich die Anzahl insgesamt auf etwa 5000 Kämpfer, Deutschland befindet sich dabei mit 760 Personen im Mittelfeld. Die Kämpfer aus Deutschland haben bei den Anführern des IS jedoch keinen besonders guten Ruf. Laut Claudia Dantschke gelten Sie als unzuverlässig und werden daher oft im besonders gefährlichen Frontgebiet eingesetzt.
"Plötzlich war ich die Stellvertreterin aller Muslime." Beheschta Bayani, wuchs als Muslima im Erzgebirge aufWas in der Debatte um islamistische Radikalisierung häufig vergessen wird: Den Islam gibt es nicht, sondern lediglich Menschen, die ihren Glauben auf verschiedene Weisen praktizieren - der allergrößte Teil davon friedlich. In den meisten muslimischen Communities werden Salafisten als rückständige Wirrköpfe gesehen. Eine solche Muslima ist Beheschta Bayani, die im Interview erzählt, wie es ist, als junge Muslima im sächsischen Erzgebirge aufzuwachsen. Besonders problematisch für sie: Wieder und wieder als Stellvertreterin für andere Muslime behandelt zu werden. Gerade nach terroristischen Anschlägen oder im Zusammenhang mit der wiederkehrenden „Kopftuch-Debatte" passiert das laut Beheschta Bayani besonders häufig.
Der IS verliert beständig Territorium und damit auch Ölfelder, die seine Haupt-Einnahmequelle sind. Ende 2015, in der Hochphase des IS, belief sich das Herrschaftsgebiet auf etwa 100.000 Quadratkilometer - eine Fläche, die der Größe Bayerns und Baden-Württemberg entspricht. Heute liegt der IS in den letzten Zügen und kontrolliert nur noch ein Zehntel des ursprünglichen „Kalifates".
"Für den IS sind Deutsche Kanonenfutter." Claudia Dantschke, Islamismus-ExpertinDer Niedergang des IS hat gleichzeitig drastische Konsequenzen für die europäischen IS-Unterstützer: Sie alle müssen in ihren Heimatländern mindestens mit einer Anklage wegen Unterstützung einer Terror-Vereinigung rechnen - nicht wenige haben noch schlimmere Straftaten begangen. In diesem Zusammenhang wird klar, dass die zahlreichen Hinrichtungsvideos des IS nicht nur als Propagandawerkzeug dienen. Denn sie sind gleichzeitig auch Beweisstück, das die grausamen Taten der europäischen Henker und Scharfrichter dokumentiert und so eine Rückkehr nach Europa verhindert. Aber wie soll die Gesellschaft mit denjenigen umgehen, die es zurück nach Deutschland schaffen? Einsperren? Deradikalisieren? Claudia Dantschke über die IS-Rückkehrer.
Obwohl der IS vermutlich in absehbarer Zeit zusammenbrechen wird, bedeutet das nicht, dass die Gefahr der Radikalisierung gebannt ist. Im Gegenteil: Radikale Strömungen werden weiterhin bestehen und Jugendliche manipulieren. Dann jedoch aus dem Untergrund, in Form eines digitalen Kalifates ohne eigenes „Staatsgebiet". Dazu noch einmal Claudia Dantschke.
Obwohl ich mich mehrere Monate mit islamistischer Radikalisierung beschäftigt habe, kann ich immer noch nicht vollständig nachvollziehen, warum jemand sein Leben so grundlegend ändert - gegen alle Widerstände und mit allen offensichtlichen Nachteilen. Letztlich bleibt nur eine Erklärung: Selbst das Leben als radikaler Islamist erscheint besser als das vorherige.
Das ist es, was mich am meisten schockiert.
Adrian Breda