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Die Freiheit der kleinen Nationen

Buch des Monats

Nicht erst seit der russischen Invasion der Ukraine blicken viele Menschen in Zentraleuropa mit Besorgnis nach Moskau. Doch der Gewaltherrscher im Kreml ist nur ein weiterer Protagonist, der vor dem Hintergrund einer deutlich älteren, großen historischen Lage agiert, die das Leben und Sterben in der Region bestimmt. Nachlesen kann man dies nicht zuletzt bei Milan Kundera: In seinen Romanen wie zum Beispiel „Das Buch vom Lachen und Vergessen" umkreist der im vergangenen Sommer 94-jährig verstorbene Schriftsteller diese wiederkehrende Situation, die sich seit dem 2014 begonnenen und 2022 extrem ausgeweiteten Krieg um die Ukraine aktualisiert hat. Kundera näherte sich dem Problem aber auch in Essays, so schon 1967 in seiner Rede „Die Literatur und die kleinen Nationen" und im international berühmten Text „Der entführte Westen", den er 1983 im französischen Exil publizierte. Eingeführt von den Historikern Jacques Rupnik und Pierre Nora, sind beide Beiträge nun als Buch erstmals in deutscher Sprache erschienen. Bislang gab es „Der entführte Westen" auf Deutsch nur in der kleinen linken Zeitschrift „Kommune" - ein Symptom für die deutsche Fixierung auf die Sowjetunion bzw. Russland.

Mit historischer Tiefenschärfe stellt der tschechisch-französische Klassiker die Lage der kleinen Nationen zwischen Russland und Deutschland dar.
So geht er zurück bis zur Schlacht am Weißen Berg, wo im Jahre 1620 die
tschechische Nation vor dem Untergang stand. Oder er behandelt František
Palacký, der 1848 in einem Brief an die Frankfurter Nationalversammlung
die Existenz des Habsburgerreichs als Bollwerk gegen Russland und dessen
imperiale Ambitionen rechtfertigte. Ein Zentraleuropa gleichberechtigter
Nationen sah Palacký nur unter dem Dach eines gemeinsamen kräftigen
Staates.
Das Buch soll der Auftakt einer Kundera-Werkausgabe sein, und so ist zu
hoffen, dass der Untertitel „Die Tragödie Mitteleuropas“ in späteren Auflagen geändert wird. Denn in seinem Essayband „Der Vorhang“ aus dem Jahr
2005 schreibt Kundera: „Zentraleuropa lässt sich nicht auf (den von mir nie
benutzten Begriff) ‚Mitteleuropa‘ reduzieren, wie jene es gern nennen, die
es nur vom Wiener Fenster aus kennen; Zentraleuropa ist polyzentrisch und
erscheint von Warschau, von Budapest oder von Zagreb aus jeweils in einem
anderen Licht. Aber einerlei aus welcher Perspektive betrachtet, immer
scheint eine gemeinsame Geschichte durch.“ Vom tschechischen Fenster
sieht Kundera die erste zentraleuropäische Universität in Prag oder die hussi-
tische Revolution als Vorschein auf die Reformation. Die Verteidigung gegen
die türkische Invasion gehört für ihn ebenso zu Zentraleuropa wie der dort
entstandene Zionismus. Letzterer entwickelte sich aus dem „gleichen Unwil-
len sich anzupassen, dem gleichen Willen der Juden, als Nation, mit ihrer
eigenen Sprache zu leben! Eines der grundlegenden Probleme Europas, das
Problem der kleinen Nationen, hat sich nirgendwo sonst so deutlich, so kon-
zentriert und so exemplarisch offenbart.“
Zweifelslos gehört zu Mitteleuropa auch Deutschland, das vereint erneut
in die Situation geriet, für viele zu groß, aber als europäischer Hegemon zu
klein zu sein. Selbst wenn Ostdeutschland, so Kundera 1983, verschwinden
würde, gäbe es Deutschland noch. Das ist bei der Ukraine mit ihren fast vier-
zig Millionen Menschen anders: Sie droht als Ganzes zu verschwinden, und
„dieser ungeheuerliche, nahezu unglaubliche Vorgang vollzieht sich, ohne
dass die Welt es bemerkt“, so Kundera schon Anfang der 1980er Jahre. Denn
Zentraleuropa bedeutet „maximale Vielfalt auf minimalem Raum“; Russland
dagegen „minimale Vielfalt auf maximalem Raum“.


Deutsch-russische Machtspiele
Wenn ein gattungsbewusster Autor wie Kundera, der überzeugend begrün-
dete, warum eine Tragödie nicht die Haupthandlung eines erstklassigen
Romans sein sollte, von einer solchen schreibt, stellt sich die Frage: Worin
besteht die Tragödie Zentraleuropas? Immer wieder sind diese kleinen Nati-
onen mit den großen Literaturen zwischen Deutschland und Russland auf-
geteilt oder verschoben worden, etwa Ende des 18. Jahrhunderts oder nach
dem Molotow-Ribbentrop-Pakt 1939. Und Russland versuchte nach 1991
immer wieder, in seinem alten Einflussgebiet zu wirken. Aber auch das heu-
tige Deutschland ist so unschuldig nicht, da es aus den kleinen Staaten ver-
längerte, lohndrückende Werkbänke gemacht hat. Selbst ein so kultivier-
ter Verleger und Schriftsteller wie Wolf Jobst Siedler verstieg sich im 1991
publizierten buchlangen Gespräch mit dem Historiker Arnulf Baring unwi-
dersprochen zu der Bemerkung, Deutschland komme wohl nicht umhin,
„Osteuropa ökonomisch zu durchdringen, und wahrscheinlich wird ihm auf
diesem Wege zufallen, was das Dritte Reich mit ein paar hundert Divisionen
nicht erreichte – die Vorherrschaft in jenen unabsehbaren Räumen zwischen
Weichsel, Bug, Dnjepr und Don“. Deutschland ist damit nach Russland die
zweite Klinge der Schere, die immer wieder Zentraleuropa durchschnitt.

Es mag sein, dass Kundera in seiner Darstellung dieses Transiteuropas als
Laboratorium und Ursprung der Moderne von Kafka bis Freud zuweilen ide-
alisiert; man kann den Kroaten Miroslav Krleža (1893 bis 1981) als Gegengift
parallel lesen, der gerade die opportunistische Verlogenheit dieser provin-
ziell kleinen Nationen geißelte, ebenso wie ihre Fremdenfeindlichkeit und
ihre Abwehr von Schutzsuchenden, weil man selbst oft emigrieren musste.
Dennoch kann Kundera große kulturelle Leistungen kenntlich machen,
die die kleinen bedrohten Staaten zu Herzländern Europas, ja der westli-
chen Zivilisation machen. Nicht zuletzt seine frühen Erzählwerke wie „Der
Scherz“ bleiben Teil eines kulturellen Aufbruchs, der sich aus den Zwängen
des alten stalinistischen Regimes löste, ohne sich sogleich den Zwängen des
Marktes unterordnen zu müssen.
Diesem „entführten Westen“, der immer wieder vergessen wird, gehörte
Kunderas Herz. Dessen Tragödie ist nicht Russland, so der Schriftsteller
1983, sondern Europa, dass „das Verschwinden seines großen kulturellen
Hortes nicht bemerkt, weil es seine Einheit nicht mehr als kulturelle Einheit
empfindet“.
Dies änderte sich nach 1991 einerseits grundlegend und blieb anderer-
seits in vielem gleich. Obwohl Zentraleuropa zu großen Teilen Nato und
EU beitrat, sprachen deutsche Eliten bis in den Februar 2022 von „unserem
Nachbarn“ Russland. Dieser Verlust der kulturellen Einheit Europas war für
Kundera eine ebenso fundamentale Veränderung wie die Entkolonisierung
Afrikas.
Was tun? Ist es ein Zufall, dass die letzte Ausstellung des aus dem zen-
traleuropäischen Raum kommenden Peter Weibel „Renaissance 2.0“ hieß?
Bekanntlich sah die US-amerikanische Publizistin und Historikerin Barbara
Tuchman im dramatischen 14. Jahrhundert einen fernen Spiegel ihres 20.
Jahrhunderts. Danach begann die Renaissance, übersetzt: Wiedergeburt.
Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie variiert. Der Zeitgeist des Spät-
mittelalters wollte die Leistungen der griechischen und römischen Antike
wiederbeleben. Aber angesichts von umwälzenden Technologien wie dem
Buchdruck entstand etwas Neues, das trotz der Ambivalenzen jener Epoche,
in der die europäischen Expansion und Kolonisation begann, Bleibendes und
bis heute Inspirierendes schuf. Kann sich Europa, ja, die Menschheit, mit
einer neuen Renaissance retten, die wieder in einer Epoche mit technologi-
schen Umbrüchen stattfinden muss? Hängt die Freiheit des Einzelnen in der
Europäischen Union angesichts einer verflochtenen und doch wahrschein-
lich in Machtpole aufgespaltenen Welt von der Freiheit der kleinen Nationen
ab?
Die Qualität der beiden Essays von gestern besteht darin, dass sie heute
Fragen provozieren, die ins Morgen zielen. In der entstehenden multipolaren
Welt wird Europa nur unter dem Dach eines gemeinsamen Hauses bestehen
können. Wenn es lebenswert sein möchte, gilt: Die freie Entwicklung jeder
der kleinen Nationen ist die Bedingung für die freie Entwicklung Europas.
Zerfall und Zersplitterung werden sich jedoch ohne das einigende Band
einer neuen Renaissance nicht aufhalten lassen.






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