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In den Abgründen des Westens

Éric Vuillard erzählt den Stoff von gestern, als ob er ihn heute erlebt hätte. So auch in seinem neuen Werk: In „Ein ehrenhafter Abgang" widmet sich Vuillard dem Ende der französischen Kolonialherrschaft in Indochina, also den heutigen Ländern Vietnam, Laos und Kambodscha. Eine Reise von drei Gewerbeaufsehern im Jahr 1928 zu einer Michelin-Plantage in die weit entfernte Kolonie eröffnet das Buch. Hinter den Kulissen entdecken die drei Inspektoren nicht nur archaische Ausbeutung, sondern auch moderne Managementmethoden. Effizienz geht vor Humanität: Regelmäßige Misshandlungen werden als Ausnahmen verharmlost, die Regel der Gewinne bleibt. Den Beleidigten und Beladenen bleibt als Weg ins Offene nur Flucht und Selbstmord.

Hier betreten wir eine Hauptstraße im literarischen Land Vuillards. Immer wieder befasst er sich mit dem Kolonialismus, so auch in seinem Buch „Kongo". Dort nimmt der Schriftsteller und Regisseur die Berliner Kongo-Konferenz im Jahr 1884 - auf der die großen Mächte der Epoche regelten, wie sie Afrika künftig aufteilen würden, ohne dabei in Kriege untereinander verstrickt zu werden - zum Sprungbrett zu einer Reise ins Conradsche Herz der Finsternis. Seinen historischen Bildersaal steigert er dabei oft ins Groteske. Auch in seinem neuen Werk kommt der Sarkasmus nicht zu kurz. So schreibt der 1968 geborene Vuillard zu den ewig gleichen reichen Familien in Frankreich, „denn was arrangierte Ehen anging, war die Bourgeoisie noch um einiges aufgeschlossener als der Koran, um sich der einfachsten Verwandtschaftsstruktur anzunähern, die man sich denken und die es tatsächlich geben kann, auf dass alles, Autos, Häuser, Aktien, Verpflichtungen, Ehrenämter, Posten und Ren-
ten für immer und ewig in der Familie bleiben, und diese auf ihre wesentlichste Form reduzierte elementare Struktur der Verwandtschaft des 8. oder 16. Arrondissements in Paris nennt sich Inzest“. Éric Vuillard verbindet in seinem Werk Szenen und Orte, die hunderte Jahre oder Kilometer entfernt sind, zu Erzählströmen, die bei aller epischen Kraft erstaunlich schlank sind. Wenn seine Bücher auch oft als Romane einsortiert werden, trotzen sie doch
den Genrebezeichnungen: Sie sind novellenhaft kurz, aber man kann sie nicht auf ein besonderes Ereignis, das in ihnen entfaltet wird, reduzieren.
Nach einem Zeitsprung in die 1950er Jahre zeigt „Ein ehrenhafter Abgang“ den Niedergang von Französisch-Indochina: Wirtschaftlich rentieren sich die Plantagen nicht mehr, die Einheimischen begehren auf, der Aufstand gegen die Kolonialherren ist die neue Flucht. Vuillards wie immer rhythmische Prosa schillert zwischen Gefundenem und Geschautem, Inszeniertem und Geträumtem. Dabei wird ein wiederkehrendes Motiv kräftig konturiert: die Macht von Volksmassen. In seinen Büchern steht, nein, bewegt sich dieses Motiv zuweilen im Zentrum. So etwa in seinem Meistergesang zum Beginn der großen Revolution der Franzosen: die Vorgeschichte und den Tag des Sturms auf die Bastille 1789, die er in „14. Juli“ so in Szene setzt, dass wohl viele die Ereignisse nicht nur zu sehen, sondern auch zu
riechen und zu hören glauben. Wie in „Ein ehrenhafter Abgang“ verstehen auch in „14. Juli“ die Herrschenden, die in Intrigen und Ränkespiele untereinander verstrickt sind, den Umbruch, der sie bald wegreißen wird, nicht oder zu spät. So bemerkt ein Bürgermeister aus Vuillards Geburtsstadt Lyon kompromisslos: „Wenn wir den Kolonialvölkern die gleichen Rechte zugestünden, wären wir die Kolonie unserer Kolonien.“ In den daraus folgenden
Kriegen wurden – wie in vergleichbaren heute – ethnische und soziale Unterschichten als Kanonenfutter verheizt.


Der Osten als Leerstelle
Schließlich übernahmen die USA damals in Indochina, die 1950er Jahre sind die Hochphase des Kalten Krieges, die Rolle der sich zurückziehenden alten europäischen Mächte. In „ihrer charakteristischen Mischung aus Gutmütigkeit und Verbrechertum“ hinterlassen sie eine planetarische Blutspur. So setzt die in seinem neuen Buch einprägsam geschilderte Ermordung von Patrice Lumumba Vuillards alte Expedition ins koloniale Kongo fort. Bis
heute bleibt der erste Premierminister des unabhängigen Landes eine Symbolgestalt des antiimperialistischen Kampfes. Gestern nutzte das die imperiale Sowjetunion, die sich wie heute Russland als antiimperialistische Kraft ausgab. Überall gab es fortan Lumumba-Straßen, so bis heute eine in Leipzig. Im ukrainischen Bachmut, das heute jeder kennt, erlebte ich einst heftige Diskussionen, ob man diese umbenennen soll. In Moskau gab es eine Lumumba-Universität mit Absolventen wie Mahmud Abbas oder dem Terroristen
Carlos. Diese sollten beim antiimperialistischen Kampf des sowjetischen Imperiums mitwirken. Davon findet sich nichts bei Éric Vuillard, obwohl das Buch mit der Flucht der Amerikaner und ihrer Verbündeten aus Saigon endet, die ohne die „sozialistische“ Hilfe mit Waffen, Beratern und Ausbildung nicht erfolgt wäre. Das ist kein Zufall: Gustav Seibt charakterisierte Vuillard in seiner Rezension zu „Der Krieg der Armen“ bei allen Unterschie-
den, seine literarische Leistung anerkennend, als zeitgemäßen Stefan Zweig, bei der historischen Wissenschaft bleibe er aber beim Stand von Ernst Blochs Buch über Müntzer von 1921. Wer nun Vuillards Erfolgsbuch „Die Tagesordnung“ liest – er erhielt dafür 2017 den einflussreichsten französischen Literaturpreis Prix Goncourt –, ist verblüfft, wie brennend aktuell Vuillard von der Appeasement-Politik der 1930er Jahre erzählt, und bei tieferem Nachdenken entsetzt, dass keine osteuropäische Figur auftaucht.
Éric Vuillard ist ein Meister des Westens – das östliche Gelände bleibt weitgehend eine Leerstelle. Sein Werk besteht, um es mit dem Titel seines Buchs über den Ersten Weltkrieg zu sagen, aus „Balladen vom Abendland“. Anders als sein älterer, aber planetarisch ausgreifender Kollege Heiner Müller (1929-1995), der gerade aufgrund des sowjetischen Imperialismus und des Scheiterns einer nachkapitalistischen Gesellschaft den „unauflösbaren Clinch zwischen Revolution und Konterrevolution“ als „Grundfigur“ der modernen Geschichte sah und darstellte, verharrt Vuillard bei einem linken Denken, das vor dem Stalinismus und seinen bis heute evidenten Folgen Halt macht. Positiv hervorzuheben bleibt, dass er in jeder Erzählung das Erfundene auf der Basis des Überlieferten reflektiert. Er bekennt: „Es gilt aufzuschreiben, was man nie wissen wird.“ Und weiß: „Nichts ist unschuldig in der Kunst des Erzählens.“ Welche Epoche er auch wählt, stets stellt er die mediale Schubkraft der Historie vor. Ohne das Auftauchen der Gutenberg-Galaxis hätte es
so keine Reformation, aber auch keinen Thomas Müntzer gegeben. Wuchtig und einprägsam heißt es: „Fünfzig Jahre zuvor war eine glühende Masse ausgeflossen, von Mainz durch das ganze übrige Europa, war zwischen die Hügel jeder Stadt, zwischen die Buchstaben sämtlicher Namen geflossen, über die Regenrinnen, durch die Windungen jedes einzelnen Gedankens; und jeder Buchstabe, jeder Ideenzipfel, jedes Satzzeichen war in ein Stück
Metall eingegangen. Man verteilte sie in einer Holzschublade. Die Hände wählten eines aus, und noch eins, und so entstanden Wörter, Zeilen und Seiten. Sie wurden in Tinte getaucht, und eine ungeheuerliche Kraft presste die Lettern langsam auf das Papier.“
Bei späteren Medienumbrüchen braucht Vuillard weniger Metaphernwucht, da ihre Wirkungen bekannter sind. So bei den Wochenschauen vom Wiener Heldenplatz 1938 in „Die Tagesordnung“ oder bei den Fernsehbildern aus Saigon 1975 in „Ein ehrenhafter Abgang“: „Damals wurde durch die Seitenfenster gefilmt, wie Menschenmengen dem Flugzeug hinterherrennen, wie ihm Motorroller und Jeeps verzweifelt nachjagen, auf eine unbestimmte Rettung hoffend. Sie klammern sich an die Räder, an das Fallreep. Einen oder zwei kann man am Nacken noch hochziehen.“ Da denken wohl viele an die Bilder von der Flucht aus Afghanistan im Jahre 2021. Indochinaverlassen weder Franzosen noch US-Amerikaner mit einem „ehrenhaften Abgang“, sondern hinterlassen zerbombte Landschaften mit Millionen Toten. Wer mit historischer Tiefenschärfe in die Abgründe des Westens
schauen will, lese Éric Vuillard. Nichts spricht dafür, dass die östlichen Pen-
dants es besser machen.



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