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Buchempfehlungen zum Thema Klasse und Identität by yvonnefranke | mojoreads

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ Dieser Schlüsselsatz aus dem Kommunistischen Manifest geriet in einen Zangengriff: Der eine Schenkel war der Wohlfahrtskapitalismus, der andere die Todeserstarrung im Staatssozialismus. Spätestens 1990 schien der Klassenkampf obsolet zu sein. Nach drei Dekaden sind viele Hoffnungen grau geworden, aber versperrt bleibt ein Zurück in die Kämpfe des Schornsteinzeitalters und eine einende Idee einer hellen lichten Zukunft gibt es nirgends, aber zunehmend werden die im Dunkeln beachtet, weil sie erzählen.

+Klasse und Kampf , das von Maria Barankow und Christian Baron herausgegebene Buch, ist mehr als eine Schwalbe, die noch keinen Frühling ausmacht, sondern zeigt eine kräftiger werdende Zeitströmung. Die vierzehn Stimmen gehören, was man an Geburtsjahren zwischen 1963 und 1988 erkennt, keiner Generation an, sondern sie erhellen, was häufig ausgeblendet wird: „Bei der Forderung nach Diversität im Bildungssystem, in der Politik, in der Arbeitswelt geht es oft um die ethnische und kulturelle Herkunft, um das Geschlecht. Die soziale Herkunft wird meist vergessen, sie ist ein blinder Fleck.“

Gibt den Ton an die Essaysammlung Klasse und Kampf
Gibt den Ton an: die Essaysammlung "Klasse und Kampf"

Wie nach der ersten deutschen Einheit, der von 1871, trat nach einiger Zeit die soziale Frage immer stärker ins Zentrum, was sich auch in der Literatur zeigte, etwa in +Die Weber (1892) von Gerhart Hauptmann. „Nach unten zu wächst nun einmal die Natürlichkeit, nach oben die Künstlichkeit“, so erklärte der spätere Literaturnobelpreisträger seine Hinwendung zur Arbeitswelt. Das gab es auch in anderen Ländern des sich formierenden Industriezeitalters.

Vergleichbares gibt es in der Gegenwart wieder, nur diesmal schreiben Leute von unten vor allem selber. Im vergangenen Jahr sorgten beispielsweise zwei Debüts für Aufsehen: +Ein Mann seiner Klasse von dem oben erwähnten Christian Baron und +Streulicht von Deniz Ohde. Beide erzählen von der Scham, die die Armut erzeugt, die auch gewalttätig machen kann: Nicht gegen die unerreichbaren Herren, sondern in der Familie, gegen Frau und Kinder. Geboren sind beide Erzähler in den 1980er Jahren in armen Verhältnissen in einem reichen Land. Mittlerweile drohen ihre Ausnahmeerfahrungen massenhaft zu werden. Nicht theoretisch, sondern szenenscharf zeigen sie, wie eine über den Bildungsweg erzeugte Selektion im Kapitalismus vorgenommen wird, wie Armut nicht revolutionär macht, sondern resignativ.

Ein ganz frisch erschienenes Sachbuch zum Thema Klasse und Identitt und Denis Ohdes Roman Streulicht der im letzten Jahr fr den Deutschen Buchpreis nominiert war
Ein ganz frisches Sachbuch zum Thema "Klasse und Identität" und Deniz Ohdes Roman "Streulicht, der 2020 für den Deutschen Buchpreis nominiert war

Von der Enge der türkischen Provinz in die Enge der deutschen Arbeiterwelt geht der Weg der Mutter bei Deniz Ohde. Die Erzählerin macht plastisch, was die Wissenschaftlerin Naika Foroutan empirisch wie theoretisch erläutert: Migration zeigt die soziale Frage. Dadurch wandelte sich unser lange verleugnetes Einwanderungsland zu einer +Die Gesellschaft der Anderen . So der Titel des Gesprächsbuchs, das Naika Foroutan mit der Zeit-Journalistin Jana Hensel publizierte. Darin vergleichen sie Migranten und Ostdeutsche ohne sie gleichzusetzen, liefern verblüffende Einsichten und die beschämende Einsicht, wie jahrzehntelange Entwicklungen von der Mehrheit so lange ignoriert worden sind, dass sie sich mittlerweile zu dramatischen Konflikten verdichten.

Da das Tor zur Zukunft nur mit dem Schlüssel der Vergangenheit geöffnet werden kann, müssen Ereignisse der Vergangenheit neu befragt werden. „Das 20. Jahrhundert begann am 18. März 1871 in Paris“, schrieb Sebastian Haffner und begründete es damit, dass während der Pariser Kommune erstmals das auf der Tagesordnung stand, was seine Epoche bestimmte: Demokratie oder Diktatur, Sozialismus oder Wohlfahrtskapitalismus, ja sogar die Frauenemanzipation. Das war vor fünfzig Jahren; 1971 zum 100. Jahrestag. Zwanzig Jahre später, der Ostblock war abgeschmolzen und die Sowjetunion verröchelte, schien vieles entschieden. Einige sahen sogar ein Ende der Geschichte. Nun, zum 150. Jahrestag, erschien +Luxus für alle von Kristin Ross. Die New Yorker Wissenschaftlerin zeigt nicht, welche Gedanken großer Gestalten aufgegriffen worden sind oder welche Schlüsse Marx aus den Ereignissen zog, sondern sie durchforstet die Überlieferungen der Kommunarden von Briefen bis Memoiren und entdeckt erstaunlich Eigenständiges und Aktuelles. Etwa welche Rolle die ökologische Frage damals schon spielte, oder die Kritik an blindem Konsum: „An die Stelle von sinnfreiem Luxus, der, wie Morris wusste, nie ohne eine Art von Sklaverei existieren kann, würde einluxe communaloder Gleichheit in einem Zustand der Fülle treten.“ Die brutale Niederschlagung, die mehr Tote forderte als die verschriene Jakobinerherrschaft während der Großen Revolution der Franzosen, führte der in die Schweiz geflohene Benoît Malon auch auf die Schule der Grausamkeit zurück, durch die die Armee bei der Unterwerfung Nordafrikas gegangen ist. Ein erstaunliches Buch, das zeigt wie Kämpfe von gestern heute wieder aktuell werden können.

Da neue Kunst verschüttete Traditionen offenlegt, kommt es – wenn sie Prägekraft gewinnt – zu Neu- und Wiederentdeckungen. Mit Gerhart Hauptmann und anderen Naturalisten wurde Georg Büchner wieder- und erstentdeckt, nachdem heute der wichtigste deutschsprachige Literaturpreis benannt ist.

Gegenwärtig geschieht Vergleichbares, ist aber noch nicht abgeschlossen. Lesenswert ist die Kopenhagen-Trilogie von Tove Ditlevsen (1917-1976), bestehend aus den autobiografischen Romanen mit den sprechenden Titeln +Kindheit , +Jugend und +Abhängigkeit , die prononciert aus einem Blick von unten und als Frau geschrieben sind. Sie enthüllen demütigende Kindheitsmuster, die nur schwer oder gar nicht zu überwinden sind. Tove Ditlevsen gelang es in ihrer präzisen und anschaulichen Prosa, aber nicht im Leben – sie starb an einer Überdosis von Schlaftabletten.

Ditlevens Kopenhagen Trilogie  ein Klassiker in der Neuauflage des Aufbau Verlags
Ditlevens Kopenhagen Trilogie: der dänischeKlassiker in der Neuauflage des Aufbau Verlags

Bei Interpretationen alter Traditionen entstehen neue Beziehungen, es spannt sich ein Netz über Generationen und das Geflecht der Kunstgeschichte wird plastisch, offen für Zukunft. Wer von der Sicht von unten reden will, sollte Wolfgang Kohlhaase nicht vergessen, zu dessen 90. Geburtstag eine erweiterte Neuausgabe seiner Publizistik +Um die Ecke in die Welt erschien. Der berühmteste deutsche Drehbuchautor beleuchtet Filme und Freunde, der Band enthält auch viele seiner Gespräche. Der Arbeitersohn erkannte sein Thema auch durch das Beispiel des italienischen Neorealismus, als dessen deutscher Interpret er in der DDR antrat, etwa beim Schreiben des Drehbuchs zu „Berlin – Ecke Schönhauser“ (1957). Im Gespräch mit dem Schriftsteller Clemens Meyer, der sein Enkel sein könnte, erläutern beide die Erfahrung eines Epochenbruchs in jugendlichen Jahren und wie aus dem dadurch entstandenen Roman +Als wir träumten von Meyer Kohlhaases Drehbuch für den Spielfilm von Andreas Dresen sich entwickelte. Im erwähnten +Klasse und Kampf erzählt Clemens Meyer von den Vorbildern seiner Gestalten am Beispiel dieses Romans.

Das schmale, aber gewichtige literarische Werk von Wolfgang Kohlhaase erschien ebenfalls in einem erweiterten Band: Wie Gustav Seibt gehöre ich zu denjenigen, die hoffen, dass der Band +Erfindung einer Sprache und andere Erzählungen bald zum Kanon gehört. Es sind Novellen, die neben die der großen Könner gehören mit ihrem lapidaren plebejischen Humor, den man aus vielen von seinen Szenarien kennt. Die Titelgestalt von „Solo Sunny“ schmeißt morgens einen Liebhaber raus: „Is ohne Frühstück“. Und als er nörgelt: „Is auch ohne Diskussion.“

Mit dem neuen Interesse an der sozialen Frage wurde Heiner Müller (1929-1995) wieder verstärkt inszeniert und gelesen. Breviers aus seinem Werk wie +»Für alle reicht es nicht« oder +Der amerikanische Leviathan erschienen. Nun gaben Falk Strehlow und Wolfram Ette einen Band heraus: +Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung . Vieles, was aktuell diskutiert wird, wie die „Überkreuzungen von Herkunft, Geschlecht und Eigentum“ ist von diesem planetarischen Klassiker schon dargestellt worden. Oft in einer Drastik, die heute verstört. Die Essays lassen immer wieder erstaunen, etwa wie Heiner Müller mit seinen Frauengestalten die überlieferte Geschlechterrollen in Frage stellt, Machtverhältnisse charakterisiert und gleichzeitig die wachsende ökologische Katastrophe nicht aus den Augen verliert. Beginnend mit der Perspektive von unten, von Bauern und Arbeitern, erweiterte er seinen Kosmos bis zu Herrscherfiguren. Im Band ist ein Foto abgebildet, auf dem er ein Schild trägt, auf das er geschrieben hat: „Es gab immer zwei (2) Deutschland, eins oben, eins unten. Ich lebe in beiden.“

Das Muster aus dem späten 19. Jahrhundert wieder virulent werden, ist nicht nur auf die soziale Frage beschränkt, sondern auch, darauf weisen Historiker wie Christopher Clark hin, auf die Außenpolitik in einem sich neu formierenden „Konzert der Großmächte“.

Vieles bleibt offen, aber einige Wegmarken aus den letzten 30 Jahren erhellt Wolfgang Engler mit +Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen . Er beginnt mit einer denkwürdigen Szene: Am 4. November 1989 versammelten sich Hunderttausende auf dem Berliner Alexanderplatz, Offenheit war das Schlagwort der Stunde. Als Heiner Müller vor drohenden Entlassungen und harten Jahren sprach und zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften aufrief, schlug der anfangs starke Applaus in Pfiffe um. Die Masse war hoffnungsblind. Mit knapper Not rettete sich der Theatermann mit einer Pointe: „Wenn in der nächsten Woche die Regierung zurücktreten sollte, darf auf Demonstrationen getanzt werden.“ Heute verblüfft – es war noch vor der Maueröffnung – die Hellsicht. Wolfgang Engler zeichnet in prägnanten Kapitel eine Entwicklung nach, in der allmählich begriffen wird, dass die Eigentumsfrage „eine der Kardinalfragen offener Gesellschaften“ ist und zunehmend wieder stärkere Beachtung findet. Das bleibt auch in einer globalisierten Weltwirtschaft so, die nicht besteht aus „einem Hüpfen von Transit zu Transit, sondern wesentlich ein von Staaten ermöglichter Weltverkehr“ darstellt.

Wolfram Ette, einer der Herausgeber der neuen Heiner-Müller-Lektüren, sieht nach einer „bleiernen Inkubationszeit“ wieder „die Stoffe auf der Straße liegen“.

Zitat aus Klasse und Kampf

Die vierzehn in +Klasse und Kampf versammelten Stimmen zeigen ihre Haltungen zu den Stoffen „um die Ecke in der Welt“ (Kohlhaase). Diese sind heute zunehmend durch außereuropäische Flucht und Einwanderung geprägt. Wenn der ökologische Gattungsselbstmord verhindert wird, bleibt es dabei: Kein Ende der Geschichte, kein Ende des Erzählen.

Der Anfang des Sammelbands ist mein Schluss: „Was von Menschen geschaffen wurde, kann von Menschen verändert werden. Leider ist das alles andere als selbstverständlich, denn der zentrale Mythos der marktkonformen Demokratie ist auch ihr Erfolgsrezept. Viele Leute glauben tatsächlich, die Ökonomie sei nicht dem Willen der Gesellschaft unterworfen, sondern den Naturgesetzen.“

Im März erschien bei DVA Achim Engelbergs +An den Rändern Europas


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