Für die Recherchen zu „Kruso“ hat Lutz Seiler die Hilfe der Autorenassistentin Rebecca Ellsäßer genutzt. Worin besteht ihr Beitrag zum Roman? Ein Gespräch.
Frau Ellsäßer, Sie bieten „Autorenassistenzen“ an? Worum handelt es sich dabei genau?
Das Modell ist das einer Künstlerassistenz, wie man es aus anderen Kunstsparten, etwa der bildenden Kunst oder der Fotografie, kennt. Die Idee dahinter ist, Autoren lästige oder zeitraubende Arbeiten abzunehmen, damit mehr Zeit für das eigentliche Schreiben bleibt. Insgesamt sind die Anforderungen an Autoren und an die Vermittlung von Literatur ja heute so vielfältig, und ich finde es spannend, nach Möglichkeiten zu suchen, wie Autoren die sich verändernden Bedingungen und Umbrüche im Buchmarkt für sich nutzen können. Mir geht es immer um ganz individuelle Unterstützung. Diese kann längerfristig sein, zum Beispiel durch Arbeit an einem Buchprojekt oder Beratung in Fragen der Selbstvermarktung, oder projektbezogen, etwa durch eine Recherche, wie im Fall von Lutz Seilers Roman „Kruso".
Worum ging es bei dieser Recherche?Die Recherche habe ich genau vor einem Jahr gemacht, im Auftrag für „Das Vorzimmer", ein Unternehmen, das ähnliche Dienstleistungen wie ich für Autoren anbietet. Die Recherche hatte zum Inhalt, die Forensik von Wasserleichen zu untersuchen. Es ging darum, anonymisierte Sektionsberichte von Wasserleichen zu beschaffen und zu beschreiben, was passiert, wenn ein Mensch ertrinkt.
Welche Vorgaben hatten Sie von Lutz Seiler für die Recherche bekommen?Der Roman war eigentlich fertig, meine Recherche bezog sich ausschließlich auf den Epilog. Der Kontext der Recherche war klar, nämlich eine Geschichte zu erzählen, die sich um die Ostseefluchten dreht, die von der Insel Hiddensee ausgingen. Der Roman spielt im Sommer bis Herbst 1989, und es ging um das Versprechen zwischen den zwei Hauptfiguren Kruso und Ed, eine über die Ostsee verschwundene dritte Figur zu suchen, die in diesem „Meer des Friedens" untergegangen ist und womöglich an der dänischen Küste wieder angespült wurde. Dieser Kontext war sehr wichtig: Um diese spezielle Wasserleiche ging es und nicht um irgendeine.
Hatten Sie vorab Einblick in das Romanmanuskript?Nein, aber Seiler hat mir erzählt, worum es geht und dass er eine Suchbewegung abbilden wollte. Es ging ihm darum, dass Ed, der ja kein professioneller Rechercheur ist, sich auf die Suche nach dieser verschwundenen Figur Sonja macht.
Warum waren diese gerichtsmedizinischen Details denn am Ende so wichtig?Über fünftausend Menschen versuchten, über die Ostsee in die Freiheit zu fliehen, viele davon sind dabei umgekommen. Diese Leichen, das wusste man aufgrund der Strömungsverhältnisse, sind oft an der dänischen Küste angespült worden. Ich sollte herausfinden: Was passiert überhaupt, wenn man eine Wasserleiche findet? Wie läuft eine Obduktion ab? Was ist das für ein Menschenschlag, diese Rechtsmediziner? Wie riecht es in einem Obduktionssaal? Oder auch: Was wird asserviert und wie lange? Die eigentliche Frage, die sich Lutz Seiler gestellt hat, war: Es muss doch klar gewesen sein, dass diese Leichen, die dort an der dänischen Küste angespült wurden, ostdeutsche Grenztote waren. Gab es nicht eine Form von interner Dienstanweisung oder eine Kommunikation zwischen Dänemark und der DDR über diese anonymen Toten? Wo wurden sie obduziert, wurden sie zurückgeführt und wo wurden sie beerdigt? Ich habe nächtelang im Archiv der Bundesbeauftragten für Stasiunterlagen recherchiert, da gibt es ein sehr umfangreiches Online-Archiv. Ich habe das Gefühl, dort schlummern so einige Romanstoffe. Es ist unglaublich, was für ein Grenzregime die DDR war und wie gerade auch die Ostsee abgeriegelt war. Und wie versucht wurde, aus all den Grenzverletzungen zu lernen, und wie akribisch die Stasi versucht hat, die Lücken in diesem Sicherheitssystem zu schließen.
Sie haben also eigentlich weit über das Forensische hinaus recherchiert.Ja, ich glaube, ich bin etwas über das Auftragsziel hinausgeschossen. Aber es war eben auch wichtig, ein Gespür für die Geschichte zu bekommen und für das, was den Autor interessieren könnte.
An welchen Orten haben Sie noch recherchiert?Ich habe zwei gerichtsmedizinische Institute besucht. Im Landesinstitut für Rechtsmedizin in Potsdam habe ich einen Gerichtsmediziner getroffen, und da fanden auch gleich zwei Obduktionen statt, darunter auch die Wasserleiche eines Kleinkindes. Ich habe mir die Leiche aber selbst nicht angeschaut. Aber ich habe mir einen Obduktionssaal zeigen lassen und mir detailliert erklären lassen, was dort passiert und wo die Leichen aufbewahrt werden. Ich habe mir Gutachten angeschaut. Das zweite Treffen fand in einem Klinikum in Bad Saarow statt. Dort gab es zu DDR-Zeiten eine spezielle militärmedizinische Akademie, wo Obduktionen von Grenztoten stattfanden. Das hatte damit zu tun, dass das konspirative Obduktionen waren, das heißt, die Stasi war anwesend. Ich habe dort einen Mediziner ausfindig gemacht, der damals in der Akademie gearbeitet hat. Die Leichen wurden teilweise mit dem Hubschrauber nach Bad Saarow gebracht, dort obduziert, und das Gutachten wurde sofort eingezogen. Man hat die Angehörigen meist völlig im Unklaren gelassen oder die Gutachten nachträglich gefälscht.
Das Dossier Ihrer Recherche besteht gleichermaßen aus Fakten- und subjektivem Erlebnisbericht. War das von Seiler so gewollt?Ich hab' mich selbst dafür entschieden, die Recherche in der Ich-Form zu schreiben, was natürlich erst einmal ungewöhnlich ist. Aber da es auch um das Atmosphärische ging und darum, sich in die Figur des Ed Bendler einzufühlen, der bei seiner Suche eben auch gerichtsmedizinische Institute aufsucht, also sehr subjektiv zu beschreiben, wie es einem geht, wenn man beispielsweise den süßlichen Geruch der Leichen wahrnimmt, oder wie es wirkt, wenn man erklärt bekommt, dass mit einer ganz normalen Suppenkelle mit braunen Flecken die Körperflüssigkeiten entnommen werden.
Der Wasserleichengeruch wird im Roman sehr eindrücklich beschrieben. Anscheinend hatten aber weder Sie noch Lutz Seiler tatsächlich eine Wasserleiche unter der Nase.Nein, aber dieser Geruch ist in den Instituten sehr prägnant. Es war lustig, weil der Leiter des Potsdamer Instituts so stolz darauf war, dass es in seinem Institut nicht stinkt. Ich bin aber fast umgekippt und fand, es stank schon ganz schön. Der Geruch ist halt da, den wird man auch nicht mehr so schnell los, der dringt in jede Pore.
War Lutz Seiler denn selbst mal in einem Obduktionssaal?Das müssen Sie ihn fragen, aber ich glaube nicht. Er hat die gerichtsmedizinischen Details verwendet, die ich ihm geliefert habe.
Ist das nicht kurios? In diesem Fall haben Sie etwas stellvertretend für den Autor erlebt.Also ich glaube nicht, dass Lutz Seiler für dieses Detail seines Buches eine derart tiefe und präzise Recherche hätte aufwenden können. Soweit ich weiß, war auch die Abgabefrist schon verstrichen, und Lutz Seiler saß auf heißen Kohlen. Und da war es sinnvoll, sich Unterstützung zu holen. Auch deshalb, weil dann noch mal ein anderer Blick, ein anderes Augenpaar sich in diese Geschichte begibt, eine andere Perspektive, die dann reinkommt.
Der ganz aus sich selbst schöpfende Autor, der die Welt durch ein Zauberwort bannt. Ist das ein veraltetes Bild von Autorschaft?Autoren hatten schon immer Menschen, die ihnen helfen, sowohl in Verlagen als auch im familiären Umfeld oder im Freundeskreis. Es fließen immer eine Menge Stimmen in den Roman ein. Die Recherche ist zwar eine wichtige Form der Selektion, um etwas Bestimmtes zu finden, aber die eigentliche Inspiration und die genialen Einfälle muss es natürlich trotzdem geben, und die kann nur der Autor leisten. Auch der Text hat ja ein Eigenleben. Und Lutz Seiler hätte diese Geschichte nie schreiben können, wenn er nicht selbst Saisonkraft auf Hiddensee gewesen wäre. Eine solche Erfahrung kann ich nicht ersetzen. Insofern war meine Arbeit ein Mosaikteilchen in einer sehr großen Recherche.
Wie viel von Ihrer Recherche finden Sie denn im Epilog von „Kruso" wieder?Es gibt diese Splitter von Wirklichkeit, von diesen Fakten, die gerade im Epilog eine große Rolle spielen. Es gibt da eine Stelle, wo es um den Ertrinkungstod geht, die verschiedenen Phasen des Ertrinkens oder auch das Bild von der Leiche, die am Meeresgrund treibt wie ein schnüffelnder Hund. Oder die Figurencharakterisierung des Gerichtsmediziners Dr. Sørensen, bei ihm sehe ich Parallelen zu dem Potsdamer Arzt, den ich getroffen habe. Oder auch Details wie die Kleiderkarte, die bei anonymen Leichen aufbewahrt wird.
Ehrlich gesagt, auf mich wirkt der Epilog sehr nachgeschoben. Im Grunde wäre der Roman auch ohne den Epilog ausgekommen, finden Sie nicht?Das Interessante am Epilog ist ja, dass Seiler dort die poetische Sprache plötzlich zurückstellt und sich eher auf den Faktenbericht beschränkt. Er ist eine wichtige Ergänzung, weil er den historischen Hintergrund der Geschichte noch mal aufzeigt und anders verortet. Die Sache mit den verschwundenen Ostseeflüchtlingen spielt im Roman selbst gar keine so große Rolle, aber der Aspekt der Spurensuche war Seiler persönlich sehr wichtig, weil er unglaublich fand, dass niemand vor ihm nach diesen Verschwundenen gefragt hat. Diese investigative und politische Dimension des Romans wird ja erst im Epilog richtig deutlich. Und dass dieses Museum der Ertrunkenen, das er sich ausgedacht hatte, in einer etwas anderen Form wirklich existiert.
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