Nach einem einmonatigen Exportverbot verkauft Argentinien wieder Rindfleisch ins Ausland. Mit dem Schritt hatte die Regierung versucht, den enormen Preisanstieg einzudämmen. Einige Organisationen wollen die Inflation mit Gemüseanbau bekämpfen.
Von Roland Peters, Belén de Escobar
Rund 60 Kilometer nordwestlich der argentinischen Hauptstadt werfen ein paar Männer hellbraune Kürbisse auf die Ladefläche eines Lieferwagens. Neben dem Vereinsgebäude des „La Rivera de Matheu" steht der Mais hoch, auf einem zweiten Feld ernten mehrere Frauen Tomaten und Paprika. Nebenan stolziert ein Hahn zwischen seinen Legehennen umher. „Noch vor rund zehn Jahren war das verwildertes Land", sagt Carlos Caravajal, verabschiedet die Helfer und zeigt in Richtung der Kürbispflanzen. „Die wachsen wirklich gut."
Der 42-Jährige ist Mitglied der Organisation Barrios de Pie - Libres del Sur. Vor ein paar Jahren hatte er mit Nachbarn angefangen, hier zu pflanzen, weil ihnen das Geld für Einkäufe fehlte. Ab Ende 2019 boten sie mit der Organisation staatlich geförderte Fortbildungen in Gemüseanbau an, in der Pandemie weiteten sie die Felder aus. Carlos Caravajal ist für einen Hektar verantwortlich, der andere bleibt für den Sportbetrieb. Die Ernte aus diesem und anderen Gärten wird an Mitglieder für einen Bruchteil des freien Marktpreises verkauft. Barrios de Pie ist eine der großen sozialen Bewegungen Argentiniens. Für ihr Engagement unterstützt der Staat die Gemüsebauern finanziell.
Das Coronavirus macht wirtschaftlichen Aufbau im ganzen Land schwierig, dazu türmt sich vor der zweitgrößten Volkswirtschaft Südamerikas ein internationaler Schuldenberg, der ständig umgeschichtet werden muss. Die Regierung von Präsident Alberto Fernández versucht, die hohe Inflation mit Preis- und Devisenkontrollen in den Griff zu bekommen. Unter dessen Vorgänger Mauricio Macri rutschten ab 2017 Millionen Menschen in die Armut, jedes Jahr wurden es seither mehr. Eigenanbau wie in Belén de Escobar ist eines von vielen Mitteln, wie Staat und soziale Bewegungen versuchen, die Not in einkommensschwachen Bevölkerungsteilen zu lindern.
Die Armutsrate liegt inzwischen bei über 40 Prozent, so hoch wie seit der Krise nach der Staatspleite 2001 nicht mehr. Im Conurbano, dem urbanen Ring, der sich rund um den Stadtkern von Buenos Aires legt, lebt fast ein Drittel der 45 Millionen Argentinier. Dort stieg die Armutsrate von 35 Prozent im Jahr 2017 auf 54,3 Prozent im vergangenen Jahr. Die Regierung warf die Notenpresse an, um Pandemiebekämpfung und finanzielle Hilfen für Bevölkerung und Wirtschaft zu finanzieren: Um 52 Prozent blies die Zentralbank die Geldmenge auf und entzog einen Großteil davon wieder durch Anleiheangebote dem Umlauf. Das macht sich im Alltag der 44 Millionen Argentinier durch höhere Preise bemerkbar.
Das ist an sich nicht neu - das Land leidet grob gesagt seit Ende des Zweiten Weltkriegs unter einer permanent hohen Geldentwertung. Doch die Inflation von 46,3 Prozent im ersten Pandemiejahr ist selbst für argentinische Verhältnisse viel. Zudem stiegen die Lebensmittelpreise stärker an als die anderer Waren. Die üblichen Einkommensanpassungen kommen schon länger nicht hinterher. Der Mindestlohn liegt unter der Grenze zur extremen Armut, die Menschen haben nicht mehr genug Geld für ausreichende Ernährung. Soziale Bewegungen wie Barrios de Pie gehen deshalb immer wieder auf Straße, blockieren Verkehrswege, kampieren vor Ministerien, fordern mehr Unterstützung und Arbeitsplätze.
Holzscheite und LehmofenAuf der Rückseite des Vereinsgebäudes wuchert das Gras um ein paar Sitzbänke, ein großer Eintopf köchelt auf Holzscheiten. Der Lehmofen dahinter soll bald beim Brotbacken helfen. Carlos Caravajals Mutter ist froh über das Gemüse aus dem Garten, denn die Zuwendungen von Staat und Gemeinde reichen nie. Die Suppenküche versorgt bereits seit zehn Jahren die Kinder- und Jugendspieler des Vereins, damit sie nach dem Training den Tag nicht mit leerem Magen beenden. Als unter Ex-Präsident Macri die aktuelle Wirtschaftskrise begann, standen plötzlich auch ihre Eltern Schlange.
In Sichtweite sind ein paar Wände im Rohbau zu sehen, Schritt für Schritt sollen sie weiter ausgebaut werden. Das Geld ist zu knapp für Baumaterial, aber der Betrieb muss weitergehen. Jeden Tag kommen Dutzende Kinder und Familien und haben Hunger. Im nahenden Winter müssen dicke Kleidung und eine Plastikplane als Dach ausreichen.
Niemand eröffnet eine Suppenküche einfach so. Allein in Belén de Escobar betreibt Barrios de Pie - Libres del Sur 14 davon, im Großraum Buenos Aires sind es 650 für mehr als 50.000 Menschen. Landesweit betreibt die Bewegung aktuell sogar 2800 Hilfsstellen für 200.000 Argentinier, aber auch das zeigt nur einen Teil der Dimension: Bis zu 11 Millionen Menschen waren 2020 landesweit auf die Hilfen der Suppenküchen angewiesen. Betrieben von Kirchen, Städten, Gemeinden und vor allem sozialen Bewegungen, dürften es davon inzwischen zehntausende geben.
In diesem Jahr liegt die Inflation bereits bei über 20 Prozent, neben Armut und Hunger hat die permanente Geldentwertung weitere, wenn auch weit weniger dramatische Alltagsfolgen. Kassierer in Argentinien reagieren häufig mit erstaunter Dankbarkeit, wenn der Kunde passend zahlt. Laut Gesetz müssen Supermärkte zugunsten des Kunden das Wechselgeld runden, wenn sie nicht genau herausgeben können. Sie kassieren deshalb häufig lieber kleine Scheine, die in der Summe womöglich weniger wert sind, als auf einen großen herauszugeben. Es gibt inzwischen sogar einen Hersteller, der mit einer Zusatzfunktion seiner Bonbons auf der Packung wirbt: „Ideal zum Wechseln", ist dort zu lesen.
Preiskontrollen einmal pro MonatDie Vize von Präsident Alberto Fernández ist Cristina Kirchner, die selbst acht Jahre lang Staatschefin war. Unter ihr limitierte Argentinien ab 2011 die Dollarkäufe von Bevölkerung und Unternehmen, um den Peso zu schützen. Es entstanden ein Schwarzmarkt für Dollar und Euro und damit parallele Wechselkurse.
Die staatliche Statistikbehörde Indec begann, die Inflation als niedriger anzugeben, als sie wirklich war. So wollte sie Vertrauen in den Peso herstellen. Es gelang nicht. Seither erheben Aktivisten im Großraum Buenos Aires ihre eigenen Preisstatistiken für den Warenkorb. Inzwischen arbeitet die Statistikbehörde wieder mit den echten Zahlen. Ein argentinischer Peso ist derzeit noch so viel wert wie ein halber Eurocent. Der größte Schein sind 1000 Peso, das sind umgerechnet fünf Euro.
Sergio Zamboni steuert seinen alten Transporter in die Zufahrt eines riesigen Supermarktparkplatzes. Der 62-Jährige gehört zu den Koordinatoren von Barrios de Pie, heute begrüßt er zwei Helferinnen für die Preiserhebung. „Hier macht uns meistens niemand Probleme, in den kleinen Nachbarschaftsläden ist es schwieriger, da schmeißen sie uns manchmal raus", sagt Alejandra Baez.
Sie und Cecilia Sánchez suchen einmal monatlich die günstigsten Preise einer mehrseitigen Produktliste in den Geschäften in ihrer Nähe. „Das ist sehr wichtige Arbeit, das trichtern wir unseren Mitarbeitern ein", sagt Sergio Zamboni. Schlussendlich kontrollieren sie, ob die Armutsgrenze auch richtig gesetzt ist.
Die Helferinnen laufen die Gänge ab, suchen Produkte, füllen ihre Listen. Es dauert eine halbe Stunde, dann stehen die drei wieder auf dem Parkplatz und schicken ein paar Handyfotos als Arbeitsnachweis in die Chatgruppe, in der sich die mehr als 20 Kontrolleure organisieren. Alejandra Baez und Cecilia Sánchez reichen von jeweils vier Geschäften die Preise ein, ein anerkanntes Statistikinstitut bereitet die Daten auf. Die Helferinnen bauen so Druck auf, Löhne und staatliche Unterstützung an die Realität anzupassen.
Die beiden Frauen kennen sich nicht, unterhalten sich aber wie alte Vertraute über ihre Lebensumstände: Fehlendes Geld für eine ausgewogene Ernährung und für die Kinder sparen sich die Erwachsenen der Familien vom Mund ab. „Wir essen nur einmal pro Tag, aber die Kinder halten das nicht aus, sie brauchen mehr", sagt Alejandra Baez. Zu Mittag gibt es für die Eltern nur etwas, falls eine nahe Suppenküche geöffnet hat. Die Frauen hangeln sich mit staatlich subventionierter Arbeit durch, weil sie in der freien Wirtschaft keine finden, ihre Partner mit Gelegenheitsjobs.
Auch wenn die Lage nicht rosig ist, mit Fernández' Vorgänger sei es schlimmer gewesen, erzählt Alejandra Baez: „Unter Macri konnten wir unsere Rechnungen nicht bezahlen. Deshalb haben wir für diese Regierung gestimmt." Im Hochsommer, als die Pandemie eine Verschnaufpause einlegte, war sie trotzdem gemeinsam mit Zehntausenden Menschen vor das Sozialministerium in Buenos Aires gezogen; dort, wo Gelder für die Suppenküchen und Jobprogramme herkommen. „Wir müssen dafür kämpfen, was wir brauchen", sagt sie.
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