Die Menschen, die der Alternative für Deutschland (AfD) hinterherrennen, sind verlorene Schafe. Sie grasen am rechten Rand und finden den Weg zurück ins bürgerliche Lager nicht mehr. Wie Christen mit verlorenen Schafen umzugehen haben, zeigt das Matthäusevangelium (18,12): "Wenn ein Mensch hundert Schafe hätte und eins von ihnen sich verirrte, lässt er nicht die neunundneunzig auf den Bergen und geht hin und sucht das irrende?"
Thomas Sternberg, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), will nicht suchen: Er hat die AfD, einst Partei für Euroskeptiker und verwaiste FDPler, heute Auffangbecken für rechtspopulistisches Gedankengut, beim Deutschen Katholikentag in Leipzig ausgeladen. Sternberg darf das, er ist der Gastgeber. Und es gibt gute Gründe, den Populisten keine Plattform zu bieten. Deutschlands manchmal allzu verzagte Zentralkomitee-Katholiken zeigen Haltung: Menschen, die am Grenzzaun auf Flüchtlinge schießen wollen, sind bei uns nicht willkommen. Gewalt gegen Hilflose kann und darf nicht diskutabel sein. Die Botschaft, die das ZdK mit der Entscheidung aussendet, richtet sich zudem an die eigenen Reihen: Rechtskatholiken, die mit der AfD sympathisieren, werden nicht toleriert. Das ist mutig wie notwendig.
Und doch ist die Entscheidung, sich dem Diskurs mit Frauke Petry und den Ihren zu entziehen, ein Fehler, eine vertane Chance. Denn mit der AfD werden nicht nur deren politische Vertreter ausgegrenzt, sondern auch die Menschen, die sich von ihnen, warum auch immer, verstanden fühlen. Ein paar fehlgeleitete Schafe hätten durch Begegnung mit einem gläubigen Gegenüber möglicherweise eingefangen werden können. Und selbst wenn das nur naive Hoffnung ist: Ein Christ ist zur Hoffnung verpflichtet.
Seit jeher will der Katholikentag Forum, politische Bühne und gelebter Glaube zugleich sein. Er ist die institutionalisierte Umarmung in alle Richtungen. So heißt es im Leitwort: "Ein jeder ist willkommen: der Neugierige, die Suchende, die Zweifler, der Ängstliche. Auf dem Katholikentag in Leipzig wollen wir gemeinsam neu sehen lernen." In der Praxis aber sind die Verantwortlichen blind für die Ängste vieler Leipziger. Und das, weil ihnen deren Ängste ums Abendland selbst Angst machen. Dem eigenen Anspruch, Menschen ein- und nicht auszuschließen, werden die Laien nicht gerecht. Warum trauen sich die Katholiken nicht an den Rand der Gesellschaft, auch wenn es der rechte ist? Fürchten sie, heilige Bischofsworte könnten gegen Petrys rechtspopulistischen Zauber nicht bestehen? Dabei äußert sich Kardinal Marx doch entschieden genug, wenn er sagt: "Überlegungen, an den Grenzen auf wehrlose Flüchtlinge zu schießen, sind inakzeptabel und menschenfeindlich." Warum sagt er das Frauke Petry auf dem Katholikentag nicht ins Gesicht?
Die Sünde zu geißeln, ohne den Sünder zu lieben, ist unchristlich. Genau diese konservative Feigheit versucht Papst Franziskus in seiner Kirche zu überwinden. Unter seiner Führung hat der Katholizismus die Barmherzigkeit für den Sünder neu entdeckt. Wieder und wieder spricht der Pontifex von Gottes grenzenloser Liebe und erinnert daran, dass auch Jesus sich zu den Zöllnern und Außenseitern gesellte. Kurz: Im Franziskus-Katholizismus finden die bangen AfD-Seelen Zuflucht, im ZdK-Katholizismus nicht. Der Papst sagt: "Wenn man die verirrten Schafe nicht die Liebe und Barmherzigkeit Gottes spüren lässt, gehen sie wieder weg und kommen vielleicht nie wieder." Das gilt auch für verprellte AfD-Wähler. Die katholische Kirche in Deutschland wäre in diesem Fall genauso "diskussionsunfähig", wie Frauke Petry ihr vorwirft. Für das ZdK sind Petrys Anhänger nur schreiender Pöbel. Franziskus dagegen würde in ihnen Menschen erkennen, die vom rechten Pfad abgekommen sind und sich nach Geborgenheit sehnen. So versucht er seit Amtsbeginn die Herzen der Katholiken zu öffnen. Dafür wird er selbst bei den größten Sündern gefühlig. Der Pontifex scheut weder die Begegnung mit dem schwer kranken Diktator Fidel Castro noch mit verurteilten Mördern und Vergewaltigern.
Nicht umsonst erinnert Franziskus seine Kirche an ihre seelsorgerische Mission: den Menschen am Rande der Gesellschaft das Gefühl zu geben, etwas wert zu sein. Das ist auch die Botschaft, die vom Katholikentag ausgehen sollte. Doch die Verantwortlichen denken nicht an Seelsorge, sondern an politische Außenwirkung. Dass der AfD vor den anstehenden Landtagswahlen das Gespräch in TV-Duellen verweigert wird, mag verständlich sein. Die Politik muss sich nicht um alle Sünder kümmern, die Kirche dagegen schon. Wenn Thomas Sternberg die Absage jedoch mit den Worten begründet: "Die AfD hat sich mit ihren Äußerungen der vergangenen Tage aus dem demokratischen Konsens verabschiedet", ist dies ein politisches Argument, das in einem säkularen Umfeld seine Berechtigung hat, in einer Glaubensfrage aber nicht.
Davon abgesehen: Was könnte passieren? AfD-Politiker schwenken auf ZdK-Podien Deutschlandfähnchen und werden ausfallend. Dann schmeißt Thomas Sternberg sie halt von der Bühne. Das wäre nicht unbarmherzig. Auch Jesus kam nicht mit jedem Gespräch zum Ziel. So fegte er die Händler aus dem Tempel Gottes, weil er ihr Treiben für ungehörig hielt. Er wusste: Rauswurf ist manchmal christlicher als Ausgrenzung.