Rechtsextreme Parteien profitieren laut einer Studie regional davon, wenn viele Menschen arm sind. Sind es also die Armen, die rechte Parteien nach vorne bringen? Fachleute erklären, warum das ein Fehlschluss ist.
Je mehr Menschen von Armut bedroht sind, desto mehr Stimmen erhalten rechtsextreme Parteien in den jeweiligen Regionen. Das hat das Münchner Ifo-Institut kürzlich errechnet. Steigt der Anteil der Haushalte unter der Armutsgrenze um einen Prozentpunkt, steigt der Stimmenanteil von rechtsextremen Parteien bei Bundestagswahlen um 0,5 Prozentpunkte.
Die Schlussfolgerung scheint angesichts solcher Zahlen nahezuliegen: Menschen mit wenig Geld wählen eher rechte Parteien. Aber stimmt das wirklich? Oder lässt sich der Zusammenhang vielleicht auch anders erklären?
„Es gibt sicher auch ein paar Arme, die aus Verzweiflung der AfD ihre Stimme geben", sagt Christoph Butterwegge, einer der bekanntesten Armutsforschenden Deutschlands. Aber die meisten Menschen mit wenig Geld würden einfach gar nicht zur Wahl hingehen. Plakativ gesagt: „Ein Obdachloser wählt nicht die AfD. Der wählt gar nicht."
Arme gehen nicht zur WahlDas zeigen auch Studien: Die Friedrich-Ebert-Stiftung untersuchte im vergangenen Jahr die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2021. Das Ergebnis: Je ärmer ein Wahlkreis oder ein Stadtteil ist, desto niedriger ist die Wahlbeteiligung dort. Und umgekehrt: Je reicher, desto höher. „Die Wahrscheinlichkeit, nicht zu wählen, ist bei Menschen mit geringem Einkommen und niedriger formaler Bildung besonders hoch", schreiben die Autorinnen und Autoren der Studie. Im Vergleich zu den Siebzigerjahren sei die Wahlbeteiligung heute nicht nur niedriger, sondern auch ungleicher. Konkret: Vor 50 Jahren sind also noch mehr arme Menschen zur Wahl gegangen als heute.
Aus Sicht von Armutsforscher Butterwegge eine besorgniserregende Entwicklung. „Wenn eine ganze Schicht nicht mehr zu Wahl geht, ist das eine Gefahr für unsere Demokratie", sagt er. „Eine der wichtigsten Grundpfeiler - die Repräsentativität - ist dann nicht mehr gegeben."
12 Millionen Menschen in Deutschland gelten statistisch als armutsgefährdet (Zahlen von 2023). Das berichtet das Statistische Bundesamt. Konkret bedeutet das: Diese Personen verdienen weniger als 60 Prozent des deutschen Nettoäquivalenzeinkommens. Darunter fallen Singles mit einem Nettoeinkommen von 15.720 Euro pro Jahr und weniger und Paare mit zwei Kindern unter 14 Jahren mit weniger als 33.012 Euro Einkommen netto pro Jahr. Zudem waren die Lebensbedingungen von 5,7 Millionen Menschen wegen des fehlenden Geldes erheblich eingeschränkt. Sie waren beispielsweise nicht in der Lage, ihre Miete zu bezahlen, abgewohnte Möbel zu ersetzen oder einmal im Monat mit ihrer Familie oder Freundinnen und Freunden essen zu gehen.
Warum wählen arme Menschen nicht? Die Gründe sind vielfältig. Zunächst sei der Alltag von Menschen unterhalb der Armutsgrenze ein täglicher Kampf. Arme seien benachteiligt in allen Lebenslagen: beim Wohnen, bei der Bildung, Kultur und in der Freizeitgestaltung. Auch würden Arme oft wie Aussätzige behandelt werden. „Armsein bedeutet, ständig im Kampf zu liegen: mit den Ämtern, dem Vermieter und Leuten, die einem auf der Straße hinterherschauen. Das ist ein allumfassender Existenzkampf, der fordert viel Kraft", sagt Butterwegge. So viel, dass die Kraft für Soziales und Politisches oft fehle. „Menschen mit wenig Geld haben resigniert", sagt Butterwegge. Sie hätten das Gefühl, die Politik werde nicht für sie gemacht.
Gefährliche DynamikUnd manche von ihnen wählen eben auch rechts. Ifo-Studienautor Florian Neumeier sagt dem RND: „Unsere Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass in wirtschaftlich benachteiligten Regionen, also dort, wo viele Menschen in Armut leben oder nahe der Armutsschwelle, Wählerinnen und Wähler aller Einkommensgruppen eher dazu neigen, rechts zu wählen." Aber eben nicht nur: „Bei jenen, die von Armut betroffen sind, ist die Neigung größer, aber auch Gutverdiener in wirtschaftlich benachteiligten Regionen wählen eher rechts als der Durchschnitt", sagt Neumeier.
Warum wählen Gutverdiener in benachteiligten Regionen eher rechts? Niemand will arm sein, denn Armut ist hart für jeden Betroffenen, jede Betroffene. „Die Angst vor der Armut ist ein Treiber für Rechtsextremismus", sagt Butterwegge. Das habe man besonders an der Debatte um das Heizungsgesetz gesehen. In dieser Zeit hatte die AfD besonders viel Zulauf bekommen. „Nicht die Armen hatten Angst, sich eine nach Habecks Vorschriften nötige neue Heizung nicht leisten zu können. Die haben oft gar keine. Das waren Angehörige der Mittelschicht, die nicht mal eben 30.000 Euro locker machen können", sagt Butterwegge. „Die haben das Grundgefühl: Das, was die etablierten Parteien entschieden haben, bringt mich in finanzielle Nöte."
In Deutschland gehört über die Hälfte der Bevölkerung (63 Prozent) der Mittelschicht an. Statistisch gesehen zählen dazu laut ifo-Institut Menschen, die mindestens 75 Prozent und höchstens 200 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Konkret bedeutet das: Zur Mittelschicht zählen Singles mit einem jährlichen Nettoeinkommen von rund 17.460 bis 46.600 Euro und Paare mit zwei Kindern, die im Jahr mindestens rund 36.700 und höchstens 97.860 Euro netto verdienen.
Die Mittelschicht in Deutschland ist, auch das hat das ifo-Institut errechnet, in den vergangenen Jahren geschrumpft. Nicht viel, aber dennoch: Von 65 Prozent im Jahre 2007 auf 63 Prozent (2019). Ein Rückgang, der zwar relativ moderat erscheint, aber im Vergleich mit den anderen europäischen Ländern beachtlich ist, ordnen die Forschenden ein. Die breite Mitte wird kleiner und das schürt die Angst, selbst bald nicht mehr dazu zu gehören.
Aber nach Butterwegges Einschätzung ist es nicht nur die drohende Armut, die Abstiegsängste befeuert, sondern die generelle soziale Ungleichheit. „Die fünf reichsten Familien in Deutschland haben so viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung", sagt Butterwegge. „Das erzeugt viel Druck für die Mittelschicht. Es ist nicht nur die Angst vor dem sozialen Abstieg, sondern auch davor, zwischen unten und oben zerrieben zu werden."
Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland von Armut betroffenEine gefährliche Dynamik, die auch Anfang der Dreißigerjahre rechtsextremen Parteien wie der NSDAP zum Aufstieg verhalf. Forsa-Chef Manfred Güllner sagt dem RND: „Der Nukleus aller bisherigen rechtsradikalen Bewegungen in der Weimarer Republik und der 1949 gegründeten Bundesrepublik war ein radikalisiertes Segment der deutschen Mittelschicht."
Diesen Menschen - darunter der Lebensmittelhändler in Pforzheim oder der Metzgermeister aus Rosenheim - sei es ökonomisch nicht schlechter gegangen als dem Durchschnitt der Wahlberechtigten. Aber sie hätten sich eben subjektiv benachteiligt gefühlt und deshalb „extrem pessimistische ökonomische Erwartungen und ausgeprägte Statusängste" gehabt. „Man fühlt sich zerrieben zwischen dem globalen Kapitalismus und dem ‚Proletariat' und sucht nach Sündenböcken - Juden, Jüdinnen, Flüchtlingen - für die Furcht vor einem möglichen Verlust des jetzigen sozialen Status in der Gesellschaft", analysiert Güllner.
Krise stärkt rechte ParteienHeute, sagen beide Experten, sei die Situation eine ähnliche. Bis Anfang der Neunzigerjahre sei das Leben in Deutschland geprägt gewesen von einem „beruhigenden Grundgefühl", sagt Butterwegge. „Für die meisten Bürgerinnen und Bürger stieg der Wohlstand, und sie hatten wenig Sorgen. Durch den Ukraine-Krieg, die Energiepreisexplosion, die Inflation und die drohende Klimakatastrophe ist dieses Gefühl verloren gegangen."
Dieses Krisenbewusstsein stärke rechtsextreme Parteien, die sich traditionell für viel Abschottung nach innen und nach außen sowie die Stärkung der Sicherheitskräfte - Polizei, Militär - einsetzen. „Es hat Tradition, dass sich ein Teil der Mittelschicht in Krisensituationen politisch nach rechts wendet."
Auch heute seien die Wählerinnen und Wähler der AfD selten Teil der armen Bevölkerung. „Nach unseren Unterlagen ist das durchschnittliche Haushaltseinkommen der AfD-Anhängerinnen und ‑Anhänger nicht niedriger als das aller Wahlberechtigten", sagt Forsa-Chef Güllner. Insofern würden die zahlreichen AfD-Anhängerinnen und ‑Anhänger in den ökonomisch schwachen Regionen - auch in den neuen Bundesländern - eher der Schicht der normal Verdienenden entstammen. Er gibt jedoch zu bedenken, dass auch die NSDAP ihren Erfolg zahlreichen Arbeiterinnen und Arbeitern verdankt. „Auch die AfD kommt zu ihrer augenblicklichen Stärke durch Zuwanderung auch aus dem klassischen Arbeitermilieu", sagt Güllner.