- Eine Reportage vom 5.9.2013 -
Ein effektvoller Redner ist der Hochschullehrer Bernd Lucke allemal. Zwar stammt er aus Berlin und lehrt in Hamburg, aber ein wenig sei er auch Rheinländer, nimmt der Parteisprecher der "Alternative für Deutschland" (AfD) das Publikum in der rheinischen Provinz für sich ein: schließlich habe er mal in der kleinen Stadt Bonn am Rhein studiert.
Aber was er dann erzählt, ist mehr als eine Anekdote aus seinen Zeiten als RCDS-Kämpfer gegen die Kommunisten. Es ist das Generalthema, das Lucke und seine Parteifreunde in diesen letzten Tagen des Bundestagswahlkampfes umtreibt: Seht her, wir sind die einzigen, die sich trauen, die Wahrheit zu sagen - und dafür werden wir unterdrückt, diffamiert, verprügelt.
Auf Luckes Rednerpult im Bergischen Löwen in Bergisch Gladbach steht die Forderung "Volksabstimmung über die Eurorettung", aber darüber will der Makroökonom gar nicht reden. Es wird 43 Minuten dauern, bevor er das Wort "Euro" überhaupt in den Mund nimmt; die Auflösung des Euro erwähnt er gar nicht. Statt dessen arbeitet Lucke in 100 Minuten klassisch konservative Themen ab, bietet überraschende Lösungen an und gewährt so einen Blick in das Seelenleben seiner neuen Partei.
Es ist eine Wahlkampfveranstaltung, aber keine, die sich an unentschiedene Wähler richtet. Hier in der bergischen Provinz hat Lucke ein Heimspiel. Bewacht von gut einem Dutzend gelangweilter Polizisten waren rund 500 Menschen zum Bürgerzentrum geströmt, von denen sich viele durch Anstecker und Aufkleber als AfD-Aktivisten zu erkennen gaben. Eingeladen hatten Martin Haase, Direktkandidat für den Wahlkreis 100 (Rheinisch-Bergischer Kreis) und seine zwei Mitbewerber aus Köln.
Die Reaktionen im Saal zeigen, dass 90 Prozent des Publikums echte Lucke-Fans sind. Dreimal springt der jungenhafte wirkende 51-Jährige im Laufe des Abends aus dem Zuschauerraum auf die gut einen Meter hohe Bühne - und jedesmal wird das bewundernde Raunen im Saal lauter.
Auf dieses Publikum ist Lucke perfekt eingestellt. Ihre Begeisterung werde die AfD in den Bundestag tragen, wenn sie sich "mit Mut zur Wahrheit und Mut zum Einsatz für unsere Partei" gegen alle Anfeindungen und Angriffe zur Wehr setzten. Wie früher der Spartakus an der PhilFak in Bonn rissen jetzt die politischen Gegner die Plakate der AfD ab. "Diese gewaltigen Plakatverluste sind eine Frechheit, eine Gemeinheit", schimpft er. Dazu müsste es nicht kommen, "wenn die Polizei einfach mal nachts durch die Straßen fährt und diese Leute zur Strecke bringt."
Lucke, der vor wenigen Tagen selbst in Bremen von der Bühne geschubst worden war, schildert Fälle, in denen AfD-Leute von Schlägern mit Stahlkappen-Schuhen getreten worden waren. Es sei völlig inakzeptabel, dass in mehreren solcher Fälle die Täter unerkannt entkommen könnten. Es sei eine "Herausforderung für unseren Rechtstaat und unsere Demokratie, wenn andere Parteien uns hindern, Wahlkampf zu führen."
Damit ist Lucke bei seinem ersten großen Thema: Deutschland habe sich, nicht nur im Wahlkampf, an die sogenannte Bagatell-Kriminalität gewöhnt, der Staat sei zu lasch. Die Menschen in Deutschland fühlten sich nicht mehr sicher, weil sie das Gefühl hätten, dass Straftaten geduldet werden. Seine Forderung: auch gegen Kleinkriminalität ("Diebstähle, Drogen, Graffiti") aus der linksextremen autonomen Szene müsse der Staat mit ganzer Härte vorgehen. Zur Sicherheit schiebt Lucke nach: "Selbstverständlich" gelte das auch für "die andere Seite, für die Rechtsextremisten". Und wie eine stärkere Präsenz der Polizei finanziert werden soll, das werde er gleich noch erläutern.
Das nächste Thema, etwas überraschend, ist die Außen- und Verteidigungspolitik. Zwar mache das AfD-Programm keine Aussagen zu Fragen wie nach einem Syrien-Einsatz, sagt Lucke. Die Antwort sei dennoch einfach. Denn die AfD sei eine Grundrechtspartei - und das Grundgesetz erlaube den Streitkräften aus guten Gründen nur die Verteidigung. US-Präsident Obama, so behauptet Lucke, frage gerade den Kongress, "ob er GIs in Syrien einmarschieren lassen darf", was die Bundesregierung nicht unterstützen dürfe. Das Grundgesetz decke zwar den Einsatz der Bundeswehr beim Nato-Partner Türkei, aber kein deutscher Soldat dürfe die türkisch-syrische Grenze überschreiten. Dass die Bundesregierung daran nicht einmal denkt und dass Obama keine Bodentruppen einsetzen will, das erwähnt Lucke nicht.
Statt dessen kommt er wie versprochen auf die Aufstockung der Polizei im Inland zurück: Wenn man die deutschen Soldaten aus Afghanistan und vom Horn von Afrika zurückziehe, habe man genug Geld für die innere Sicherheit.
Erst nach diesen Ausflügen in die Innen- und Außenpolitik, zu seinen eigentlichen Themen, den "großen Zukunftsfragen unseres Landes" - die von den "Altparteien" missachtet würden. Statt dessen beschäftigten sie sich mit Ablenkungsthemen wie der Frauenquote, der steuerlichen Behandlung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften oder der Frage " Was essen wir Donnerstag in der Kantine", mokiert sich der Professor. Nur die AfD packe die richtigen Themen an. Also jetzt der Euro? Ja, aber nur am Rande.
Denn als Zukunftsthemen definiert Lucke diese Fragen:
"Wer bezahlt eigentlich später alle unsere Schulden, wenn wir immer mehr Schulden machen?" "Wer sichert unser Energieversorgung, wenn wir uns immer mehr auf unsichere und unzuverlässige Quellen stützen?" "Wer sichert unseren Rechtstaat, wenn unsere Regierung nichts gegen die tut, die den Rechtstaat verletzen?" "Wie verändert sich unsere Gesellschaft, wenn wir Zuwanderer aufnehmen, die sich nicht integrieren lassen wollen?"
Alle diese Fragen spießt Lucke, der frei redet, faktenreich und anschaulich auf - und liefert einfache Lösungen. Manchmal allzu einfache.
Erst jetzt fällt zum ersten Mal der Begriff "Euro", mit dem viele der Zukunftsfragen verbunden seien. Und Lucke kommt zum ersten Mal auf seinen "Lieblingsgegner" Wolfgang Schäuble (CDU) zu sprechen. Den Bundesfinanzminister greift der Makroökonom, der 33 Jahre lang CDU-Mitglied war, mit Lust immer wieder an - weil er für eine Bundesregierung stehe, die die "Wähler systematisch in die Irre leitet und teilweise belügt."
Lucke nennt Beispiele. Von Schäubles Aussage, der Tiefpunkt der Eurorezession sei durchschritten, bis zu Schäubles Forderung nach einem dritten Rettungspaket für Griechenland.
Oder Schäubles These, Deutschland spare im Zuge der Eurokrise dank niedriger Zinsen 40 Mrd. Euro. Tatsächlich spare aber nicht Deutschland, sondern nur Deutschlands Schuldner - also der Finanzminister selbst, Bund und Länder. Und sie sparten genau die 40 Mrd. Euro, die den Sparern vorenthalten worden seien: "Die Sparer, das sind Sie. Sie haben die Kosten der Eurorettung durch eine schleichende Enteignung zu tragen!", schmettert Lucke in den Saal.
Kräftiger Applaus - und beifälliges Murmeln in den hinteren Reihen: "Das ist doch mal eine einfache Rechnung."
Jetzt wird es zwar etwas komplizierter, denn es geht um die Höhe der Kosten der Eurorettung. Aber auch hier hat Lucke anschauliche Vergleiche zur Hand. Selbst der zuständige Finanzausschuss des Bundestages, schmunzelt Lucke, habe längst den Überblick verloren über die Bürgschaften, die er selbst bewilligt habe. Daher hätten die Parlamentarier den Finanzminister gefragt, wie hoch Deutschlands maximales Haftungsrisiko sei.
Schäuble habe geantwortet: maximal 95 Mrd. Euro. Spöttisches Gelächter im Saal. Die Beamten des Finanzministeriums hätten nachgerechnet: tatsächlich seien es 122 Mrd. Euro, steckten sie der FAZ. Geraune im Saal. Dann hätten Bürger in den Medien nachrecherchiert: eigentlich seien es 310 Mrd. Euro. Das habe Schäuble später eingeräumt. Es wird laut im Saal. Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo-Instituts und der einzige Wirtschaftssachverständige, den Lucke von seiner Ökonomenschelte ausnimmt, habe doch in seinem Haftungspegel längst fest gestellt, dass das maximale Haftungsrisiko 637 Mrd. Euro betrage. Im Saal ertönt ein "whoaaah" wie auf der Kirmes vor dem Überschlag.
Diese Summe stellt Lucke nicht etwas kritisch in Frage, sondern übernimmt sie für seinen nächsten Schritt. Für 637 Mrd. Euro hafte Deutschland also. Eine hohe, aber abstrakte Summe. Daher rechnet der Hochschulprofessor anschaulich vor: wenn man 50-Euro-Scheine bis zur Höhe von einem Meter auftürme, dann komme man auf 416.000 Euro. Ein Euro-Turm in Höhe des Eiffelturms entspreche auch nur 125 Millionen Euro.
Ein Euro-Stapel von der Höhe des Mount Everest schließlich käme auf einen Wert von vier Mrd. Euro - und damit "auf weniger als ein Prozent des Betrages, den wir im europäischen Roulette auf's Spiel setzen.
Immer noch nicht anschaulich genug? Lucke wirft einen Blick in den Saal - und stellt eine andere Rechnung auf. Westdeutschlands 20 Millionen Rentner hätten bei der letzten Erhöhung einen Anstieg von 0,25 Prozent erhalten. Ausgerechnet die Nachkriegsgeneration, die Deutschland wieder aufgebaut und stark gemacht habe, werde mit einem "schäbigen" Betrag abgefunden, der gerade mal ein Achtel des Kaufkraftverlustes ausgleiche.
Was das mit der Euro-Rettung zu tun hat? Lucke schlägt den Bogen: für die gesamte Rentenerhöhung habe die Bundesregierung 0,5 Mrd. Euro bewilligt - "während sie gleichzeitig 671 Euro auf's Spiel setzt".
Die Zeit wird knapp. Das Zukunftsthema Energiewende streift Lucke nur knapp, mit der Bemerkung, dass die 1000 Mrd. Euro, die Bundesumweltminister Altmaier für diese Aufgabe angesetzt hat, natürlich "von mir und von Ihnen über die Stromrechnung" bezahlt werden müsse, während die energieintensive Industrie davon komme.
Am Herzen liegt Lucke das Zukunftsthema Kinderarmut - und damit auch die Einwanderung. Bei der gegenwärtigen Kinderquote von 1,3 Kindern pro Frau werde sich Deutschlands Bevölkerung bis 2080 halbieren. Daher sei es richtig, über Einwanderung nachzudenken. Aber die richtige müsse es sein.
Jedoch müsse die Bundesregierung, mahnt Lucke, dafür sorgen, dass nur bestimmte Menschen nach Deutschland kommen. Nämlich solche, die hier erwerbstätig werden und sich integrieren lassen. Diese Voraussetzung sei bei vielen Menschen aus Nicht-EU-Ländern nicht gegeben. Einwanderer ins Land zu lassen, die hier lebenslänglich vom Staat abhängig wären, sei menschenunwürdig. Daher müsse Deutschland ein Einwanderungsrecht schaffen wie die USA oder Kanada, das die Qualifikation zum Maßstab mache.
Lösung für die Armutszuwanderung
Und auch für die Zuwanderung innerhalb der EU, für die 200.000 Menschen aus Rumänien und Bulgarien, hat Lucke eine einfache Lösung parat. In diesen Ländern lebten viele Menschen in ärmsten Verhältnissen, für die allein das deutsche Kindergeld ein starker Anreiz ist, nach Deutschland zu kommen. Man müsse nur das europäische Sozialrecht ändern: beitragsfreie Sozialleistungen wie das Kindergeld und Sozialhilfe (Hartz IV) müssten in der EU künftig von den Herkunftsländern gezahlt werden. Rumänen bekämen also rumänische Sozialhilfe, ganz egal, wo sie leben.
Zum Schluss der Rede holt Lucke noch einmal zum Rundumschlag gegen die "Altparteien" aus, gegen die Steuererhöher von der SPD und den Grünen, der prinzipienlosen und populistischen FDP und die verlogene CDU.
Nur AfD kann Rot-rot-grün verhindern - mit Schwarz-gelb-blauMit den Meinungsforschern hadert der AfD-Chef. Doch für ihn ist klar, dass seine Partei "mit sieben Prozent oder noch mehr" in den Bundestag kommt - und dort eine wichtige strategische Rolle spielen wird.
Genau diese Botschaft müssten die AfD-Wahlkämpfer in den letzten Tagen vor der Wahl vermitteln: nur sie könnten verhindern, dass es statt einer großen Koalition (Schwarz-rot) zur schlimmsten aller Möglichkeiten, zu einer rot-rot-grünen Koalition der SPD unter Sigmar Gabriel mit den Grünen und der Linken komme.
Dagegen behauptet die CDU, die AfD könne mit dem Einzug in das Parlament die Stimmen gewinnen, die einer bürgerlichen Mehrheit von Schwarz und Gelb am Ende fehlten. Richtig, so Lucke, sei das Gegenteil: nur die "Blauen" von der AfD könnten Rot-rot-grün verhindern; zusammen mit der AfD hätte Schwarz-gelb-blau "mit Sicherheit eine Mehrheit".Eine interessante Wendung. Am Ende macht Lucke genau den Parteien, die er gerade verdammt hat, über die er sich 100 Minuten lang lustig gemacht hat, ein Koalitionsangebot.
Im Saal des Bergischen Löwen kommt dieser Fakt jedoch nicht an: Lucke bewundert noch rasch den chaotischen, aber aufopferungsvollen Wahlkampf seiner "so anderen Partei" und ihrer Mitglieder, die so viel bodenständiger seien als all die Berufspolitiker. Das kommt an: Standing Ovations für Bernd Lucke.