Christina Schott

Southeast Asia Correspondent: Research, Report, Analysis, Berlin

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Feature

Mama Maly

Vogue 4/2008 –

Wenn Somaly Mam traurig ist, erschöpft von all dem Elend, das nur wenige Meter vor ihrem Büro in den Bretterverschlägen des Rotlichtviertels von Toul Kork beginnt, dann fährt sie hinaus in die Provinz Kampong Cham, zwei holperige, staubige Autostunden außerhalb von Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh. Fernab der hektischen Stadt mit ihren unzähligen Bordellen, Bettlern und Touristen herrscht ländliche Ruhe: Im Bauerndorf Thlock Chhroy dösen Ochsen unter Holzhäusern auf Stelzen, der Mekong fließt gemächlich an abgeernteten Reisfeldern vorbei. Hier fühlt sich die Frau, die in Kambodscha zum Symbol für den Kampf gegen Kinderprostitution wurde, daheim.

Vor einem langgezogenen Stelzenhaus, umgeben von duftenden Mango- und Jackfruchtbäumen, hält Somaly Mam an. Sofort stürzt ihr ein Pulk Mädchen in schwarz-weißen Schuluniformen entgegen. Zwischen Pferdeschwänzen und ausgestreckten Händen verschwindet die zierliche Frau beinahe, nur ab und zu ragt die auf den Kopf geschobene Sonnenbrille aus dem kichernden Knäuel. Ein Wort von Mak Maly – Mama Maly, wie die Mädchen die 37-Jährige nennen – genügt jedoch, und alle grüßen artig mit aneinandergepressten Handflächen vor dem höflich gesenkten Gesicht. „Meine Mädchen“ nennt sie Somaly liebevoll, die selbst Mutter von zwei Töchtern und einem Sohn ist. 

Jedes einzelne dieser so fröhlich erscheinenden Kinder hat bereits mehr Leid erfahren als ein Erwachsener ertragen könnte: misshandelt und verkauft von der eigenen Familie, zum Sex mit fremden Männern gezwungen, schließlich ausgestoßen aus der Gesellschaft, weggeworfen wie leere Batterien.

Die kleine Mok Teta war gerade einmal fünf Jahre alt, als Polizisten sie vor drei Jahren bei einer Razzia in einem Bordell entdeckten. Sie weiß nicht, woher sie kam oder wer ihre Eltern waren – ihre frühesten Erinnerungen sind Schläge und Vergewaltigungen. Als man sie fand, war ihr Gesicht so verschwollen, dass sie kaum aus den Augen sehen konnte, ihr Körper war übersät mit Brandnarben von ausgedrückten Zigaretten. In ihrem Kopf war ein Loch: Jemand hatte ihr einen Nagel in den Schädel geschlagen, als sie versuchte wegzulaufen. Immerhin ist sie nicht HIV-positiv wie ihre gleichaltrige Freundin Srey Maeh, die als Fünfjährige von ihrem Vater, Onkel und Nachbarn fast zu Tode vergewaltigt wurde, bevor Sozialarbeiter sie aus ihrem Dorf retteten. 

Derart gequälte Kinder wollen erst einmal nichts mehr mit Erwachsenen zu tun haben, auch nicht mit geschulten Psychologen. Oft sind sie aggressiv und schotten sich ab. Ihren Schmerz lassen sie nur in Alpträumen heraus. Dennoch gehen Teta und Maeh heute zur Schule, können sich wieder konzentrieren und in eine Gruppe eingliedern. 

Zusammen mit 32 anderen misshandelte Mädchen im Alter von acht bis 16 Jahren haben sie im Kinderheim von Afesip (das französische Kürzel für „Handeln für Frauen in Not“) ein Zuhause gefunden. Hier können sie ihr Leid wortlos teilen: Mak Maly, die Gründerin der Hilfsorganisation, versteht sie auch so – sie hat ihre Geschichte selbst erlebt. 

Ihre leiblichen Eltern hat Somaly Mam nie kennen gelernt. Geboren in der Bergregion Mondulkiri nahe der vietnamesischen Grenze, lebte sie zunächst bei Angehörigen ihres Stammes, den Phnong. Mit zehn Jahren wurde sie einem älteren Mann übergeben, den sie „Großvater“ nennen sollte. Für ihn musste sie kochen und putzen, damit sie zu essen bekam. Hatte er getrunken, prügelte er sie mit einem Rohrstock blutig. Im Heimatdorf des alten Mannes konnte das Mädchen nicht auf viel Hilfe hoffen: Als Phnong wurde sie wegen ihrer dunklen Hautfarbe und kehligen Sprache als „Wilde“ betrachtet. Lediglich ein gutherziger Lehrer kümmerte sich um sie und verschaffte ihr etwas Schulbildung. Vor ihrem weiteren Schicksal konnte auch er sie nicht bewahren.

Als Somaly zwölf Jahre alt war, verkaufte der Großvater sie an einen chinesischen Kaufmann, dem er Geld schuldete und der sie zum ersten Mal vergewaltigte. Dieses Erlebnis gehört bis heute zu ihren schlimmsten Erinnerungen. Als sie 14 war, zwang ihr Peiniger sie, einen zwölf Jahre älteren Soldaten zu heiraten, der sie wiederum schlug und vergewaltigte. Als der Ehemann eines Tages nicht mehr von der Front zurückkam, brachte der Großvater Somaly nach Phnom Penh und verkaufte sie an „die Hölle“, wie sie es nennt – ein Bordell. 

„Noch heute frage ich mich manchmal, warum ich vorher nie weggelaufen bin“, sagt Somaly. Über ihre eigene Geschichte zu sprechen, fällt ihr immer noch schwer. „Vielleicht weil in unserer Gesellschaft Misshandlungen normal sind. Es wird erwartet, dass man sich für die Älteren aufopfert. Weil sie uns in die Welt gesetzt oder ernährt haben, müssen wir ihnen ein Leben lang gehorchen und dankbar sein.“ Bei diesem Thema gerät die dreifache Mutter in Rage, vor allem wenn sie von Frauen spricht, die ihre eigenen Töchter ins Bordell bringen und hinterher den Verdienst für sich selbst einfordern: „Eine Mami zu sein, das bedeutet, dass man sein Leben für seine Kinder opfern sollte, nicht andersherum!“ Sie selbst hat seit Tagen wichtige Termine verschoben, weil ihr fünfjähriger Sohn sich ein tropisches Fieber eingefangen hat. 

Von dem gehorsamen, ungebildeten Mädchen aus den Bergen ist jetzt nicht mehr viel zu spüren. Der Vorraum von Somalys Büros hängt voller Fotos, die die feingliedrige Asiatin an der Seite von internationaler Prominenz wie Hillary Clinton, Susan Sarandon oder der Königin von Spanien zeigen. „Ich weiß nicht, ob ich berühmt bin“, wehrt Somaly ab. „Ich habe die meisten dieser Leute getroffen, ohne zu wissen, wer sie sind. Ich entscheide mit dem Herzen: Sie waren nett zu mir, also war ich nett zu ihnen. Ich mag mich nicht verstellen.“ 

Nachdem mehr als 20 Jahre lang andere über ihr Leben bestimmt haben, lässt sich Somaly Mam heute von niemandem mehr zu etwas überreden, wozu sie keine Lust hat – sei es zur Teilnahme an einer Konferenz internationaler Hilfsorganisationen oder zu Interviews mit Journalisten, die sie spätestens seit der Veröffentlichung ihrer Biographie "Das Schweigen der Unschuld" (Ullstein 2007) regelmäßig aufsuchen. Die einzigen Menschen, für die sie immer Zeit hat, sind ihre Kinder. 

Hinter der selbstsicheren Fassade wirkt sie jedoch zerrissen: Auf der einen Seite die weitgereiste Menschenrechtlerin, die ihre Meinung nach Bedarf auch in fließendem Französisch oder Englisch kundtut, das sie sich selbst beigebracht hat; auf der anderen Seite das Mädchen vom Dorf, das mit ihrem Sohn kichernd chinesische Filme aussucht und am liebsten Prahoc isst – vergorene Fischpaste, das Essen der einfachen Kambodschaner. Es ist ein schwer erkämpftes Selbstbewusstsein, das beide Seiten zusammenhält und die Wahrheit verbirgt. Rund sechs qualvolle Jahre verbrachte Somaly in Bordellen, wo sie und andere Mädchen durch Prügel mit Elektrokabeln, mit Skorpionen, Drogen oder schlichtweg Essensentzug gefügig gemacht wurden. Als ein Zuhälter vor ihren Augen eine Freundin erschoss, weil die sich weigerte, mit einem Freier zu schlafen, beschloss Somaly etwas gegen die Zwangsprostitution in ihrem Land zu unternehmen, sobald sie sich selbst daraus befreien konnte. 

Dies gelang ihr 1992. Kurz zuvor hatten die Vereinten Nationen 22.000 Soldaten und Zivilisten nach Kambodscha entsandt, um das Friedensabkommen in dem bürgerkriegsgeschüttelten Land zu überwachen. Mit dem Zustrom boomte die Prostitution erst recht, doch die Fremden waren meist weniger brutal und zahlten besser als die Asiaten. Mit Hilfe ausländischer Verehrer konnte sie sich nach und nach kleine Jobs und neue Kontakte außerhalb der Rotlichtszene verschaffen. Auf einer Party lernte sie ihren späteren Ehemann und Vater ihrer Kinder, den Franzosen Pierre Legros, kennen. Er stand ihr in den schwierigen Zeiten bei und eröffnete gemeinsam mit ihr ein Bistro – die Möglichkeit zum endgültigen Ausstieg aus der Prostitution. Die Bilder aus jener Zeit lassen sie jedoch bis heute nicht los. Sie kehren immer wieder – in Alpträumen und in den Geschichten ihrer Schwestern, wie sie die Mädchen in den Bordellen nennt. Dennoch hat sie sich nie einer Therapie unterzogen. „Manche Dinge kann man nicht in Worte fassen. Ich mache alles mit mir selbst aus“, erklärt Somaly, die trotz ihrer Direktheit für die meisten Menschen in ihrer Umgebung unnahbar bleibt. So schwierig der Umgang mit ihren häufigen Stimmungsschwankungen sein mag, so unmöglich ist es, sie für ihre Arbeit nicht zu bewundern. 

1996 gründete die zweifache Mutter zusammen mit ihrem Mann Afesip. Mit internationaler Unterstützung eröffneten sie ein Jahr später ihr erstes Heim für Prostituierte in Phnom Penh. Heute beschäftigt die Organisation rund 150 Mitarbeiter und unterhält Büros in Thailand, Laos und Vietnam. Rund 4.000 Frauen konnte die Organisation bereits aus der Prostitution befreien. In Einrichtungen in Phnom Penh und Siem Reap erhalten junge Frauen neben psychologischer und medizinischer Betreuung eine Berufsausbildung zur Friseurin oder Näherin. In Thlock Chhroy – dem Dorf aus Somalys Kindheit – werden die Kinder bis 16 Jahre betreut. Sie besuchen die benachbarte Schule. Der frühere Lehrer, Somalys Ersatzvater, leitet heute das Heim in Phnom Penh.

“Ich möchte diesen Mädchen ein Stück ihrer verlorenen Kindheit zurückgeben“, sagt Somaly. Die Suche nach ihren Eltern hat sie inzwischen aufgegeben, doch gesteht sie, dass sie sich häufig nach einer Mutter sehnt, die sie in den Arm nimmt. „Ich habe nie gelernt, wie man Kinder erzieht. Bei meinen eigenen Kindern empfinde ich mich eher wie eine Schwester denn als Mutter. Wir reden über alles, was uns auf dem Herzen liegt, und lernen dabei voneinander. Manchmal fühle ich mich selbst noch wie ein Kind.“ Von ihrem Mann, der heute für eine andere Hilfsorganisation in Kambodscha arbeitet, hat sich Somaly getrennt. Es sei nicht einfach, mit ihr zu leben, meint sie. Männer als Freunde, ja, aber eine Beziehung könne sie sich nicht mehr vorstellen. 

Ihr Verhältnis zu den Mädchen im Heim scheint klarer: Diese Kinder sind wie sie. „Natürlich müssen alle lesen und schreiben lernen, am besten auch in anderen Sprachen. Aber viel wichtiger ist, dass sie lernen, nein zu sagen. Sie müssen verstehen, dass sie eigene Rechte haben“, sagt Somaly und wie ein Credo wiederholt sie ihr eigenes Lebensmotto: „Liebe Dich selbst vor allen anderen, nur so kannst du dich schützen.”

Für viele ihre Mädchen sind solche Worte völlig neu. Als Vorlak Ta vor zwei Jahren in Thlock Chhroy ankam, war sie traumatisiert. Die Polizei hatte sie aus den Händen zweier Männer gerettet, die sie unter falschen Vorwand aus ihrem Dorf gelockt und vergewaltigt hatten und danach an ein Bordell verkaufen wollten. Tas Leben schien verpfuscht: Ein Mädchen, das seine Jungfräulichkeit verloren hat, findet in der ländlichen Gesellschaft Kambodschas kaum noch einen Platz. Während sie ihre Geschichte erzählt, knibbelt die 16-Jährige nervös an ihren abgenagten Fingernägeln. Doch dann sagt sie mit klarem Blick: „Erst hier habe ich erfahren, dass es Rechte für Frauen und Kinder gibt. Mak Malys Worte haben mir Selbstbewusstsein gegeben. Ich will die Schule beenden und Rechtsanwältin werden, um andere Mädchen vor der gleichen Situation zu bewahren.“

Drei Gründe nennt Somaly für die Auswüchse der Kinderprostitution in Kambodscha: die große Armut, die autoritäre Kultur und mangelnde Bildung. Manche Männer glauben sich durch die Entjungferung kleiner Mädchen von Krankheiten wie Aids befreien zu könnnen. Dazu kommt der völlige Werteverlust einer Gesellschaft, die 30 Jahre Krieg sowie die komplette Selbstzerstörung durch das mörderische Regime der Roten Khmer hinter sich hat. Manche Familien auf dem Land verkaufen ihre Kinder für zwei durchschnittliche Monatsgehälter: 60 Dollar. In Phnom Penh zahlt ein Ausländer 1.500 Dollar für eine Woche mit einer Jungfrau. Nach Angaben des Frauenministeriums gibt es mehr als 100.000 Prostituierte in Kambodscha. Zwei Drittel werden zur Prostitution gezwungen. 40 Prozent sind jünger als 16. Mehr als die Hälfte sind HIV-positiv.

„Wir können nur ein paar Mädchen aus den Bordellen helfen. Gegen das Trafficking sind wir machtlos“, sagt Somaly bitter. „Die Regierung geht nicht konsequent genug dagegen vor. Es gibt zu viele Beamte, die bestechlich sind oder selbst vom Geschäft profitieren. Die Kriminellen können sich einfach frei kaufen. In den mehr als zehn Jahren, in denen ich gegen Zwangsprostitution kämpfe, hat sich kaum etwas geändert. Ich wünsche mir, dass all diese Leute in den internationalen Gremien endlich aufhören zu reden und stattdessen handeln.“

Ihre deutlichen Worte haben Somaly Mam nicht nur Freunde eingebracht. Immer wieder wird sie mit dem Tode bedroht, Zuhälter haben ihr mehr als einmal auf offener Straße einen Revolver an die Schläfe gedrückt. Doch sie will sich nicht einschüchtern lassen: „Ich kann nicht einfach weggehen und meine Leute zurücklassen. Ich habe keine Angst: Wenn die mich umbringen wollen, dann sollen sie es tun. Wahrscheinlich wird es ihnen eines Tages auch gelingen. Aber vorher will ich diese Organisation weiter aufbauen und den Mädchen eine Zukunft bieten.“ 

Um ihre Kinder hat Somaly allerdings schon Angst. Aus Sorge vor Racheakten hat sie ihre beiden 14- und 16-jährigen Töchter vor einem Jahr sicherheitshalber nach Frankreich geschickt, wo sie nun zur Schule gehen. Ihr kleiner Sohn wohnt bei ihr in Phnom Penh. Ein „Freund“, dessen Hemd sich über den Revolver im Hosenbund spannt, begleitet ihn auf Schritt und Tritt. 

Somaly Mam hat jedoch auch viele mächtige Freunde gewonnen. 1998 erhielt die Kambodschanerin den Prinz-von-Asturien-Preis, eine Art Nobelpreis der hispanischen Welt. Seitdem wird sie vom spanischen Königshaus unterstützt. Ihre Auszeichnung als „Glamour’s Woman of the Year 2006“ bereitete ihr den Weg in die USA, wo im vergangenen November mit großem Aufwand die Somaly Foundation gegründet wurde, aus deren Einnahmen sich Afesip in Zukunft speisen soll. 

„Afesip ist mein Leben“, sagt sie. „Ich liebe meine eigenen Kinder sehr, aber die Mädchen im Heim brechen mein Herz. Meine Kinder verstehen das – sie sind mit der Organisation geboren und groß geworden. Wann immer meine Töchter hier sind, fahren sie mit mir nach Thlock Chhroy. Ich versuche allen Liebe und Wärme zu geben, wie in in einer richtigen Familie. Und sie geben mir dieselbe Wärme zurück. Daraus ziehe ich die Kraft, um weiterzumachen.“

Erschienen: Vogue, 4/2008

Foto: Christina Schott