Skurril, poetisch, laut: Die in Berlin lebende Julia Kissina feiert in ihrem aktuellen Roman das Moskau der 80er-Jahre.
Elisa von Hof
Auf den ersten Blick passiert nicht viel. Eine kluge Ich-Erzählerin zieht von zu Hause aus, macht sich auf in die nächste Großstadt, versucht sich da an Kunst und Literatur, scheitert und kehrt dann wieder zu ihren Eltern zurück. Von der großen Liebe verlassen, von ihren Ambitionen geläutert. Immer dieses Coming-of-Age, jaja, das Erwachsenwerden und die Schwierigkeit, dabei den eigenen Weg zu finden. Auf diese Kurzform könnte man Julia Kissinas Roman "Elephantinas Moskauer Jahre" reduzieren. Man täte ihm unrecht. Denn da ist mehr.
Sprachkunst zum Beispiel, lakonischer Humor, eine Perspektive, die Moskau und die Welt hinter dem Eisernen Vorhang untertunnelt, und ja, auch das, die Liebe zur Literatur, die dieser Roman hinausschreit. Denn Kissina erzählt von einer Welt, in der jedes Gedicht mehr zählt als eine Portion Borschtsch.
Elephantina, die mit bürgerlichem Namen ganz anders heißt, will es zu etwas bringen. Sie sehnt ihr Reifezeugnis herbei, dieses "jämmerliche Blatt Papier voll albernem Gekritzel", um frei zu sein. Um ihr Elternhaus in Kiew endlich zu verlassen und in Moskau Kunst zu studieren oder etwas Ähnliches. Aber darum geht es ihr eigentlich nicht. Denn sie ist verliebt, zum ersten Mal und unsterblich. Und der Angebetete, klar, ist ein in Moskau lebender Schriftsteller.
Kaum ist sie ihm dann in die Metropole gefolgt und an der Theaterhochschule eingeschrieben, brechen sie an, die titelgebenden Moskauer Jahre. Die sind wild und laut und manchmal so kalt, dass man sich selbst einen der Pelze wünscht, in die sich Moskau im Winter hüllt. Elephantina jedenfalls zieht ruhelos von Ort zu Ort, getrieben von einem Lebens- und Liebeshunger, der sie bisweilen zu zerfressen droht.
Sie lebt mal auf der Straße, mal heimlich in einem Museum oder in einem verwaisten Keller, mal kriecht sie bei Freunden oder skurrilen Verwandten unter. All das bürgerliche Gewäsch interessiert sie sowieso nicht. Sie lebt für die Poesie und für ihren Schwarm, den sie wegen seines roten Gesichts "Tomaterich" tauft.
Dass dieser Roman, wie so viele Coming-of-Age-Geschichten, recht vorhersehbar kein Happy End für die Liebe bereithält, ist geschenkt. Und auch, dass Kissina der erodierenden Sowjetunion nur eine Nebenrolle zuweist. In der Jugend sind Kunst, Freundschaften, das literarische Leben im Untergrund halt wichtiger. "Wir, Vagabunden, Dichter, Studenten und hoffnungslos Verliebte waren die zarten Nachtfalter der Stadt."
Kissina, die selbst in Kiew aufwächst und die 80er-Jahre genau wie ihre Protagonistin in Moskau verbringt, hat hier wohl - so viel Spekulation muss erlaubt sein - autobiografische Erinnerungen in die Geschichte eingewebt. Das hat sie ja bereits in ihrem Debütroman "Frühling auf dem Mond" getan, den sie vor drei Jahren auf den deutschen Buchmarkt bringt. Dort erzählt sie nicht von Moskau, sondern von ihrer Kindheit in Kiew. Vom splitternden sozialistischen Traum, von der Sehnsucht nach Kunst.
Wenn auch nicht so etikettiert, hat sie mit "Elephantinas Moskauer Jahre" jetzt eine Fortsetzung dieses Debüts geliefert. Wie in einem Kaleidoskop dreht und wendet sich die Geschichte von Episode zu Episode. Sie zieht den Leser in einen bunten Strudel, in dem man nie so ganz weiß, was Wirklichkeit, was Fantasie, was bloß lyrisches Experiment der erzählenden Protagonistin ist.
Genau wie sie verliert man darin manchmal den Halt. Allzu schnell verschwimmen die Jahre ineinander, 1983 wird zu 1985, dazwischen tauchen einzelne Begegnungen auf wie Menschen im Scheinwerferlicht eines dahinrasenden Autos. Bis sie nur noch im Rückspiegel oder in Elephantinas Erinnerung zu sehen sind.
Ihr Moskau ist voller Absurditäten. Aber auch voller Magie. Wo "der Schnee wohlig unter den Sohlen" knarrt "und das Geräusch der sterbenden Kristalle die Stadt in einen kauenden, graublauen Raum verwandelt". Beobachtungen wie diese helfen über den gelegentlich schwächelnden Plot hinweg. Der ist nämlich in 41 kleine Episoden unterteilt, die nicht immer aneinander anschließen. Manche sind so lyrisch, dass sie auch als expressionistisches Gedicht durchgehen könnten.
Elephantina tanzt wie eine Seiltänzerin durch dieses poetische Moskau. Am Ende, nach Liebeswirren und Exzess, fragt sie sich: "Mein Opa ist keine Gedenktafel geworden, mein Papa kein Shakespeare. Warum also ich?" Und dann ist ihr Rausch vorbei, diese Moskauer Jahre.
Nicht die Chronologie der Ereignisse ist der rote Faden dieses Episodenromans, sondern Sprachkunst. Kissina bricht Metaphern auf und setzt sie neu zusammen, dass man laut lachen oder sich über die Originalität wundern muss. Man darf sich davon aber nicht blenden lassen. Von den vielen Ausrufezeichen, die den Leser anschreien, von den absatzlangen Beschreibungen. Hinter dieser Maskerade versteckt sich auch nur ein Teenager, der um Anerkennung kämpft. Darum, den "Albtraum, aus qualvoller Verworrenheit und erstickender Energie der Jugend" abzustreifen.
Und während Elephantina das tut, zerbricht das Land, in dem sie lebt, von Jahr zu Jahr ein bisschen mehr. Michail Gorbatschow führt Reformen ein, die Blöcke verhandeln über die Abrüstung, der Kalte Krieg nähert sich dem Ende. Kissina zählt historische Fakten auf wie Wikipedia-Auskünfte, unbedeutend, ja fast gelangweilt rekapituliert. Neben Elephantinas lauter Zeit in Moskau wird die Weltpolitik eben leise, fast stumm. Ihre kleine Welt dreht sich um sich. Nostalgie, Komik und Tragik regieren da, nicht die starken Männer der Blockkonfrontation.
Kissina selbst taucht in Moskau in den 80er-Jahren in die Untergrund-Literaturszene ein. Nach dem Mauerfall studiert sie an der Akademie der Bildenden Kunst in München, wird dann als Fotografin und Aktionskünstlerin bekannt, ehe sie sich wieder der Literatur zuwendet.
Man wünscht sich, dass Kissina selbst am deutschen Sprachgerüst rütteltAuch wenn die gebürtige Ukrainerin mittlerweile in Berlin lebt, schreibt sie auf Russisch. Das ist hier so halt- und angstlos, dass es die deutsche Grammatik dieser Übersetzung fast überfordert. Zwar haben die Übersetzer Ingolf Hoppmann und Olga Kouvchinnikova den Sprachduktus recht mutig ins Deutsche übertragen. Nach der Lektüre wünscht man sich jedoch, dass Kissina selbst mal an unserem Sprachgerüst wackelt.
Wie erfrischend dieser Switch sein kann, der Sprachwechsel zwischen Muttersprache und Deutsch, das haben in den vergangenen Jahren so einige Osteuropäerinnen recht eindrucksvoll gezeigt. Die Ukrainerin Katja Petrowskaja in dem Aufarbeitungsroman "Vielleicht Esther" beispielsweise oder die Georgierin Nino Haratischwili im Familienepos "Das achte Leben".
© Berliner Morgenpost 2017 - Alle Rechte vorbehalten.