THE END WE START FROM
Langsam füllt sich eine Badewanne, immer lauter
wird das Plätschern von Regen übertönt, der gegen Fensterscheiben prasselt, das
Wasser steigt unaufhörlich – bis die komplette Leinwand rauschend darin zu
versinken scheint. Die erste Einstellung des Films ist die sehr poetisch
anmutende Ankündigung einer Katastrophe, deren Vorboten die hochschwangere,
namenlose Frau (Jodie Comer) im Hintergrund erstaunlich unbekümmert lassen. Am
Telefon macht sie sich über die Nachbarn lustig, die in Panik die Londoner
Innenstadt verlassen, und schmiedet Pläne fürs Abendessen. Das durch den
Türspalt eindringende Wasser bemerkt sie erst in dem Moment, in dem der
Fernseher ausfällt – und die Wehen einsetzen. Dann geht alles ganz schnell. Es
ist zu früh, stöhnt sie kurz darauf im Kreißsaal. Mit brachialer Gewalt
kommt draußen die Flut, drinnen das Kind, und mit einem Wimpernschlag ist alles
anders. Als sie nach der Entbindung mit ihrem Partner R (Joel Fry) das
Krankenhaus verlassen muss, gleicht die City bereits Venedig. In ihre Wohnung
können sie nicht zurück, es bleibt nur die Flucht aufs Land zu Rs Eltern. Doch
innerhalb kürzester Zeit verschlechtert sich die Versorgungslage, es kommt zu
einer schrecklichen Tragödie, in der Notunterkunft gibt es kaum noch Platz. Das
Paar wird getrennt, bevor die Situation auch hier eskaliert. In O (Katherine
Waterston), die ebenfalls gerade ein Baby bekommen hat, findet die Frau
schließlich eine Verbündete. Gemeinsam machen sie sich zu Fuß auf den Weg zu
einer Kommune, die sich auf einer Insel vor der englischen Küste von allem
abgeschottet hat.
„The End We Start From“ ist das Kinodebüt der
britischen Regisseurin Mahalia Belo, die Vorlage lieferte der gleichnamige dystopische
Roman von Megan Hunter aus dem Jahr 2017, der gerne als weibliches Pendant zu
Cormac McCarthys Bestseller „Die Straße“ beschrieben wird. Während letzterer 2009
von John Hillcoat als postapokalyptischer Sci-Fi-Thriller verfilmt wurde, kommt
Belos Adaption zu einem Zeitpunkt in die Kinos, an dem die Dystopie schon fast Realität
geworden ist. Die Aufnahmen der überfluteten Metropole erinnern stark an Bilder,
die man gerade erst in den Nachrichten gesehen hat, vieles an den sinnlichen Naturalismus
von Terrence Malick. Zusammen mit Drehbuchautorin Alice Birch („Succession“,
„Dead Ringers“) und einem komplett weiblichen Team hinter der Kamera hat Belo den
lyrischen Stil von Hunters Novelle kongenial auf die Leinwand übertragen. Vordergründig
eine Survival-Story über die Folgen des Klimawandels und die Frage, wie
Menschen damit umgehen, ist „The End We Start From“ ein kontemplativer Film
über das Muttersein aus der Perspektive einer jungen Frau, über die die Geburt
ihres Kindes wie eine Naturgewalt hereinbricht.
Die Doppeldeutigkeiten und die Symbolik von Wasser und Wiedergeburt durchziehen die gesamte Handlung. Wie in der Romanvorlage sind die Dialoge oft fragmentarisch, der Look ist ungeschönt realistisch, wolkenverhangen trüb, der atmosphärisch anschwellende Synthesizer-Score mischt sich mit peitschendem Wind, grollendem Donner, trommelndem Regen, Bäume und Sträucher scheinen fast hörbar in die Höhe zu schießen. Nach einer Weile wird alles immer wässriger, der Himmel grauer, aus Grün wird Braun. In der aufgeweichten Erde rottet es vor sich hin, der Wald knirscht und knarzt unheilvoll, euphorisches Vogelgezwitscher weicht bedrohlichem Krächzen, irgendwann ist es still. Noch schneller, als sich die Landschaft verändert, brechen überall dort, wo sich Menschen versammeln, Chaos und Gewalt aus. Während R und alle anderen männlichen Charaktere kaum in der Lage sind, sich selbst zu retten – sie sind traumatisiert, betteln um Hilfe, greifen zur Waffe, können nicht einmal schwimmen – weiß die Mutter intuitiv, was zu tun ist. Um ihr Kind zu beschützen, übernimmt sie buchstäblich das Steuer, kämpft sich durch die wütende Menge bei der Lebensmittelverteilung, versucht, die Familie zusammenzuhalten, unterdrückt Erschöpfung, Verzweiflung, Panik.
So instinktiv und selbstvergessen, wie die Frau ihr Baby durch halb England
trägt, trägt die unglaubliche Jodie Comer den Film auf ihren Schultern. Die größte
Herausforderung für ihre Figur scheint nicht das Chaos um sie herum zu sein, sondern
ihre innere Verlorenheit. Sie hat ständig diesen suchenden Blick, hält es weder
in dem Stacheldraht-umzäunten Notaufnahmelager aus noch in der Kommune unter „lauter
reichen Menschen, die Sauerteig machen“. Selbst O, die ihr mit ihrer Willensstärke
zur Seite steht, kann ihr nicht die Angst davor nehmen, unterzugehen. Das ist
alles nicht ihre Natur. „Ich bin gerne drinnen. Ich gehe gerne in Geschäfte und
Restaurants und bestelle Essen von Speisekarten, die jemand anderes gekocht hat“,
sagt sie zu R, als sie sich kennen lernen, und mehrfach wird zurückgeblendet in
die neonbeleuchtete Bar, in der sich die beiden verliebt haben. Daran erinnert
auch die wegweisende Begegnung mit einem anderen Überlebenden. AB (ein
Cameo-Auftritt von Benedict Cumberbatch, der das Projekt mit seiner Firma SunnyMarch
produziert hat) teilt mit den beiden Frauen in einer Nacht sein Essen und eine Flasche
Wodka, und es gibt eine ganz wundervolle Szene, in der sie neben dem
flackernden Lagerfeuer wie im Discolicht zusammen tanzen, als wären sie zu
Hause statt auf der Flucht (die melancholische Elektrohouse-Nummer „Can’t Do Without
You“ von Caribou hat hier dann auch ihre Bestimmung gefunden).
Als sie irgendwann nach einer zermürbenden Odyssee tatsächlich wieder dort ankommt, wo alles angefangen hat, ist nichts mehr, wie es war. London ist verwüstet. Ihre Beziehung zu R kaputt wie die Fensterscheiben der Wohnung. Aber es ist immer noch schön, stellt sie fest, schon beinahe wieder ganz bei sich – und dann macht ihr unbeirrt fröhliches Baby seine ersten Schritte. Und das ist dann auch die hoffnungsvolle Antwort auf die Frage, ob und wofür es sich zu kämpfen lohnt.