Christina Schott

Journalistin, Südostasien-Analystin, Berlin

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Artikel

Nusantara: Warum Indonesien eine neue Hauptstadt bauen will

Die Skyline von Jakarta verschwindet im Smog. (Foto: Christina Schott)

Weltreporter-Magazin, 26.4.2022 – 

Übervölkerung, Verkehrskollaps und Dauerüberschwemmung - es gibt gute Gründe für einen Umzug der indonesischen Hauptstadt. Über das Wann, Wie und Wo sind sich Politik, Wirtschaft und Umweltschützer jedoch uneinig.


Gleich nach seiner Wiederwahl 2019 verkündete der indonesische Präsident Joko Widodo, dass er die Landesregierung aus dem übervölkerten Jakarta in die dünn besiedelte Provinz Ostkalimantan auf der Urwaldinsel Borneo verlegen wolle. Jakarta solle allerdings weiterhin das Finanz- und Wirtschaftszentrum Indonesiens bleiben. Die Idee ist nicht ganz neu: Schon der Republikgründer und erste Präsident Soekarno träumte von einer Hauptstadt auf Borneo. Doch über vage Pläne kamen auch seine Nachfolger nie hinaus. Nun stimmte am 18. Januar das indonesische Parlament dem Umzug der Regierung zu. Bereits im August 2024 sollen die ersten Ministerien aus Jakarta nach Nusantara (zu Deutsch: Archipel) umziehen - so der offizielle Name der neuen Hauptstadt. Bis 2025 wird laut Plan die ganze Stadt auf einer Fläche von 256.000 Hektar hochgezogen sein, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 1,5 Millionen. Die Kosten des Mega-Projekts sollen rund 35 Milliarden Dollar betragen.


Auch andere Staaten haben ihre Hauptstädte bereits am Reißbrett entworfen - zum Beispiel Australien, Brasilien oder Myanmar. Die augenscheinliche Eile, mit der Widodo seinen Plan vorantreibt, sowie der Zeitpunkt des Megaprojekts inmitten der coronabedingten Wirtschaftskrise lassen allerdings nicht nur oppositionelle Politiker den Kopf schütteln. Ganz offensichtlich will der amtierende Präsident als Gründer der neuen Kapitale in die Geschichtsbücher eingehen, bevor er Ende 2024 nach seiner zweiten Regierungsperiode aus dem Amt scheiden muss.


Warum braucht Indonesien eine neue Hauptstadt?

In der Tat gibt es viele gute Gründe, Jakarta zu entlasten. Mehr als die Hälfte der rund 270 Millionen Indonesier lebt heute auf der Hauptinsel Java, die nur etwa zweimal so groß ist wie die Niederlande. Fast 60 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes werden hier erbracht. Im indonesischen Teil von Borneo, immerhin so groß wie Frankreich, leben dagegen weniger als zehn Millionen Menschen. Von einem Hauptstadtumzug in die geografische Mitte des Staats aus 17.000 Inseln sollen auch die anliegenden Provinzen profitieren - in der Hoffnung, dass sich das gesellschaftliche und wirtschaftliche Gefälle verringert.


Vor allem aber soll die angespannte Lage im überbevölkerten Jakarta entzerrt werden: Mehr als 30 Millionen Menschen leben im Großraum um die Metropole, drei Millionen pendeln täglich aus den Vorstädten ins Zentrum, fast alle mit dem Auto oder Moped. Es sei ein guter Tag, wenn sie die 30 Kilometer von ihrem Haus zu ihrer Arbeit in zwei Stunden schaffe, erzählt die Personalmanagerin Meilina Sari. Ihr Auto ist ausgestattet mit Schlafkissen, Hygieneset und einem Minikühlschrank. Eine funktionierende Nahverkehrsanbindung gibt es nur auf wenigen Strecken, die dann wiederum völlig überlastet sind.


Die indonesische Hauptstadt hat viele gefühlte Superlativen zu bieten: den weltweit schlimmsten Verkehr, den dreckigsten Fluss, mit die höchste Luftverschmutzung. Zudem gilt Jakarta als die am schnellsten sinkende Metropole der Welt. Aufgrund der unzureichenden Wasserversorgung zapfen viele Unternehmen und Privathaushalte einfach das Grundwasser an, wodurch der sumpfige Untergrund immer weiter absackt. Ein „Giant Sea Wall“ vor der Küste, der den gleichzeitig ansteigenden Meeresspiegel regulieren soll, bringt neue Probleme. Durch die beinahe vollständige Betonversiegelung des Stadtbodens kann kein Wasser mehr versickern, die 13 Flüsse der Stadt schwellen bei jedem Starkregen sofort an und drücken samt Müll von innen gegen die Mauer.


Für viele Bewohner des Nordens von Jakarta gehören ständige Überschwemmungen schon jetzt zum Alltag. „Wenn das Wasser kommt, räumen die Leute einfach alles etwas höher und die Kinder plantschen darin herum“, sagt der Künstler Irwan Ahmett, der seit Jahren mit Menschen in den Küstenvierteln arbeitet. „Ein Vorwarnsystem gibt es nicht, Hautkrankheiten sind sehr verbreitet." Bis 2030 könnten ganze Teile der Megalopolis dauerhaft unter Wasser stehen. Zudem liegt Jakarta in einer stark erdbebengefährdeten Region mit mehreren aktiven Vulkanen und wiederkehrenden Tsunami-Warnungen.


Probleme bei der Suche nach Investoren

Die Wahl des Standorts von Nusantara hängt nicht zuletzt mit der Gefährdung durch Naturkatastrophen zusammen: Im ressourcenreichen Ostkalimantan gibt es weder Erdbeben noch Vulkanausbrüche. Stattdessen – zumindest noch – viel Wald und Wasser. Die strategische Nähe zum internationalen Industriehafen und Flugplatz der Großstadt Balikpapan spielt außerdem eine Rolle sowie die Nähe zu den Nachbarländern Malaysia und den Philippinen.


Nach dem ursprünglichen Finanzierungsplan der Regierung sollte ein Großteil der benötigten Gelder durch private Investitionen finanziert werden. Der Kronprinz von Abu Dhabi, Scheich Mohammed bin Zayed al-Nahyan, der britische Ex-Premier Tony Blair und Masayoshi Son, der Vorstandsvorsitzende der japanischen Softbank Holding, wurden eingeladen, einem Lenkungsausschuss für die neue Hauptstadt beizutreten. Er sei interessiert „eine neue Smart City, die neueste Technologie, eine saubere Stadt und viel Künstliche Intelligenz“ zu unterstützen“, erklärte der Softbank-CEO der Presse im Januar 2020 – ohne allerdings konkrete Summen zu nennen. Im vergangenen März allerdings zog sich das Unternehmen zurück. Nur Abu Dhabi zeigt sich weiterhin interessiert, in das Großprojekt zu investieren.


Laut einem Bericht der deutschen Nichtregierungsorganisation Watch Indonesia! hat auch die Siemens AG Interesse angekündigt, in die Infrastruktur von Nusantara zu investieren. In der ersten Bauphase sollen die neuen Gebäude für das Parlament, das Außen-, Innen- und Verteidigungsministerium sowie den Präsidentenpalast entstehen, für den der balinesische Künstler Nyoman Nuarta einen spektakulären Entwurf geliefert hat – geformt nach dem indonesischen Wappenvogel Garuda. Außerdem sind eine riesige Moschee und eine 47 Kilometer lange Mautstraße nach Balikpapan geplant, die teilweise durch einen Tunnel unter dem Meer verlaufen soll.


Mittlerweile bestehen jedoch erhebliche Zweifel an der Finanzierung des Milliardenprojekts. Für 60 Prozent der Kosten sollen nun die indonesischen Steuerzahler aufkommen. Angesichts der wirtschaftlichen Schieflage durch die Corona-Pandemie und zuletzt auch durch den Krieg in der Ukraine halten Ökonomen die Pläne für unrealistisch. „Wir haben für die nächsten fünf Jahre kein Geld für die Hauptstadt Nusantara. Bevor wir damit anfangen, müssen wir uns zuerst um den Notfall kümmern. Und das ist Covid“, sagte der Wirtschaftsexperte Faisal Basri in einem Interview mit CNBC Indonesia.


Gefahr für Regenwald und indigene Bewohner

Auch Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen schlagen zunehmend Alarm: Präsident Widodo verspricht zwar eine umweltfreundliche Smart City, deren Energie vor allem aus erneuerbaren Quellen gewonnen werden soll. Doch für deren Bau müssen weitere Flächen des einzigartigen Regenwalds verschwinden, dessen Flora und Fauna durch riesige Palmölplantagen, Kohle- und Goldabbau sowieso schon massiv bedroht sind. Und bis in der Gegend genügend erneuerbare Energiequellen entwickelt worden sind, wird der Strombedarf vor allem aus Kohle gedeckt, fürchten Kritiker: Drei neue Kohlekraftwerke in Ostkalimantan sind laut der NGO Trend Asia bereits in Planung.


Auch die indigenen Dayak haben Angst vor den Folgen des Hauptstadtumzugs. Die Ureinwohner Borneos fürchten, dass sie ihren traditionellen gemeinschaftlichen Lebensstil mit ihren alten Bräuchen und Ritualen angesichts einer „glitzernden neuen Stadt mitten im Wald“ nicht werden aufrecht halten können, sagt Jubein Jafar, ein Stammeschef aus dem betroffenen Gebiet, in einem Interview mit dem Online-Magazin Benar News. Im schlimmsten Fall könnten die Dayak einfach umgesiedelt werden, da sie ihre traditionellen Landnutzungsrechte in der Regel nicht schriftlich nachweisen können.


Laut der ersten Ankündigung 2019 fiel die Wahl auch deswegen auf den Standort mitten im Wald von Ostkalimantan, weil dort ein Großteil der Landnutzungsrechte noch frei verfügbar gewesen seien. Eine gemeinsame Studie mehrerer Nichtregierungsorganisationen hat diese anfängliche Behauptung von Seiten der Regierung mittlerweile widerlegt: Tatsächlich hielten zum Zeitpunkt der Entscheidung große Unternehmen mit engen Verbindungen zu einigen der mächtigsten Geschäftsleuten und Politikern Indonesiens insgesamt 162 Konzessionen für Kohlebergbau und Zellstoffplantagen im designierten Hauptstadtgebiet. Darunter etwa Hashim Djojohadikusumo, der Bruder des amtierenden Verteidigungsministers, oder der koordinierende Minister für Maritimes und Investitionen Luhut Pandjaitan. Ob sie – im Gegensatz zu den indigenen Gemeinden – großzügige Ablöseangebote erhalten haben, etwa durch Schürf- und Anbaurechte in anderen Landesteilen, lässt sich nur vermuten.


Allerdings stellen sich seit Februar 2022 immer mehr prominente Akademiker und Vertreter der Zivilgesellschaft hinter eine öffentliche Petition, die den Präsidenten auffordert, seine ambitionierten Pläne angesichts der wirtschaftlichen und logistischen Herausforderungen vorerst noch einmal zu verschieben.




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