Zeit Dossier, 18.03.2021 –
In vielen ärmeren Ländern haben die Impfungen gegen Corona noch nicht einmal
begonnen. Auf den Spuren eines Problems, das die ganze Welt in Gefahr bringen kann.
VON ANDREA BÖHM, CHRISTIANE GREFE, INGO MALCHER,
ROBERT PAUSCH, CHRISTINA SCHOTT UND XIFAN YANG
Antwerpen, Belgien: Der begehrteste Stoff der Welt entsteht hinter Stacheldraht, an einer tristen Ausfallstraße, zwischen einem Lampenhersteller und einer Fabrik für Tütensuppen. Hier, in einem Industriegebiet in der Nähe der belgischen Stadt Antwerpen, befindet sich eine Pharmafabrik, ein Werk des US-amerikanischen Konzerns Pfizer. Ein gigantischer Komplex aus Lagerhallen, Bürotrakten und Laborgebäuden, ein Labyrinth aus Wellblech und Beton. Im Inneren werden Tag für Tag Hunderte Arbeiter in sterile Reinräume geschleust, um winzige Fläschchen mit dem Serum zu füllen, das dabei helfen soll, die seuchengeplagte Menschheit aus der Pandemie zu führen: Comirnaty, ein Covid-19-Impfstoff, entwickelt von dem deutschen Unternehmen BioNTech.
Schichtbetrieb, rund um die Uhr. Die Fläschchen werden auf kleine Paletten gesetzt, die Paletten in Kartons gestapelt und mit Trockeneis gekühlt, bei minus 70 Grad. Draußen an der Pforte wachen Polizisten mit schusssicheren Westen und Gewehren. Ständig rollen leere Transportfahrzeuge auf das Werksgelände. Ein orangefarbener Lkw der niederländischen Post, mit Kühlaggregat und der Aufschrift "Medikamententransport". Ein weißer Sprinter mit deutschem Kennzeichen. Ein Kastenwagen einer belgischen Spedition. Sie laden die Paletten ein und rauschen über die Autobahn Richtung Landesgrenze oder zum Flughafen Brüssel. Allein am Montag und Dienstag dieser Woche wurden 1,08 Millionen Impfdosen nach Deutschland gebracht, auch Japan hat aus der Fabrik bekommen, Kanada, Israel, Australien und der Vatikan.
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Yogyakarta, Indonesien: Die alte Königsstadt auf der Insel Java hat eine halbe Million Einwohner und zog vor der Pandemie Touristen aus aller Welt an. Sie besuchten den Sultanspalast, bedeutende Tempel und meist auch Fort Vredeburg, eine von niederländischen Kolonialherren errichtete Festung. Weiße Mauern, ein von Säulen umrahmtes Tor, dahinter historische Kanonen. Das Fort ist ein Symbol für den Einfluss, den Europäer einmal in Indonesien ausgeübt haben. Heute ist es ein Museum.
Eigentlich ist Fort Vredeburg wegen Corona geschlossen. Am Freitag vorvergangener Woche aber hat sich schon um acht Uhr morgens eine lange Warteschlange gebildet. In ihr stehen Männer und Frauen jüngeren und mittleren Alters in Jeans und Turnschuhen, darunter die Supermarktverkäuferin Vena Tri Sri Rahayu, eine zierliche 21-Jährige mit Kopftuch. Sie muss sich kurz registrieren lassen, dann darf sie den Hof der Festung betreten. Dort wartet medizinisches Personal, in blaue Schutzkleidung gehüllt, um Körpergewicht, Vorerkrankungen und Blutdruck zu überprüfen. Vena Tri Sri Rahayu schaut sich um. Sie habe ein wenig Angst vor der Impfung, sagt sie. "Aber noch mehr Angst habe ich vor dem Virus."
Zwei Monate davor, Mitte Januar, betrat in der Hauptstadt Jakarta ein Herr von 59 Jahren in weißem Hemd eine mit Blumen geschmückte Bühne. Er setzte sich auf einen Stuhl. Neben ihm auf einem Tisch stand eine Box, aus der ein Helfer ein weißes Schächtelchen holte und mit Seht-her-Geste nach vorn hielt. Darauf stand "SARS-CoV-2 Vaccine SINOVAC". Fotokameras klickten. DasFernsehen übertrug live. Der Helfer öffnete die Box. Er zog eine Spritze auf. Die Zuschauer sahen in Großaufnahme, wie die Spritze in den Oberarm des Staatspräsidenten fuhr. Er lächelte. Joko Widodo war der erste von 270 Millionen Bürgern, der gegen Corona geimpft wurde. Kurz zuvor hatte Indonesien den Sinovac-Impfstoff zugelassen, als erstes Land nach dem Staat, in dem er entwickelt wurde: China.
Sinovac Biotech ist ein Pharmaunternehmen mit Sitz in Peking. Seit jenem Tag hat es 38 Millionen Impfdosen nach Indonesien geliefert, mehr als 200.000 davon gelangten, unter Polizeischutz und in Kühllastern, nach Yogyakarta. Indonesische Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger sind bereits weitgehend durchgeimpft, Anfang März begann die nächste Phase: Jetzt sind die Alten dran, dazu Menschen in Berufen mit vielen sozialen Kontakten wie die Supermarktverkäuferin Vena Tri Sri Rahayu. Indonesien hat auch Impfstoffe von BioNTech und anderen Firmen aus dem Westen bestellt. Bei den Bürgern ist davon noch nichts angekommen. Da ist eine Lücke. Und da ist ein Land, das diese Lücke gerne füllt.
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