Hamburger und Hotdogs? Daran denken viele, wenn es um die Küche der USA geht. Sean Sherman geht es eher um gedörrtes Kaninchen und geschmorten Kürbis: Er interpretiert die Rezepte seiner Vorfahren - der Oglala-Lakota, die zu den Sioux gehören. Gerade ist er in Berlin zu Gast, um sein neu auf Deutsch erschienenes Kochbuch "Der Sioux Chef" vorzustellen.
ZEITmagazin ONLINE: Herr Sherman, in der Genusswelt wird derzeit viel über kulturelle Aneignung gesprochen, Ihre indigenen Gerichte kann jeder nachkochen. Ab wann wird das für Sie problematisch?
Sean Sherman:
Natürlich sprechen wir gelegentlich von kultureller Aneignung, aber wenn
Sie die Speisen kochen, weil es Ihnen schmeckt und weil Sie darüber
hinaus vielleicht etwas über die wahre Geschichte der Native Americans
in den USA
lernen wollen, nur zu. Was Sie allerdings nicht tun sollten, wäre mit
dem Kochen kommerzielle Interessen zu verfolgen, etwa ein indigenes
Restaurant zu eröffnen, sich also im kapitalistischen Sinne an meiner
Kultur zu bereichern.
ZEITmagazin ONLINE: Das kann ich Ihnen versprechen. Für meine mittelmäßigen Kochkünste würde sowieso niemand zahlen.
Sherman: Sagen Sie das nicht, ich selbst bin auch kaum mit indigener Küche aufgewachsen und habe sie erst spät kennen und kochen gelernt.
ZEITmagazin ONLINE: Sie wuchsen allerdings in einem Reservat auf.
Sherman: In dem
Reservat, in dem ich als Kind und Jugendlicher lebte, ernährten wir uns
überwiegend vom Essen aus dem Lebensmittelprogramm der US-Regierung, das
bestand aus Dosenfleisch und Weißbrot. Auf dem gesamten Gelände gab es
nur einen einzigen Supermarkt, für den nächsten musste man drei Stunden
fahren. Wir haben etwas Gemüse angebaut und auch mal gejagt, hatten aber
kaum Zugang zu gesunden Lebensmitteln. Die schlechte Ernährung in den
Reservaten ist übrigens auch ein Grund, warum die Diabetes-Zahlen der
Native Americans höher sind als in jeder anderen ethnischen Gruppe in
den USA.
ZEITmagazin ONLINE: Was genau verstehen Sie unter indigener Küche?
Sherman: Weltweit gibt es natürlich viele verschiedene indigene Küchen, selbst in Nordamerika
lebten ja viele verschiedene Kulturen. Ich bezeichne sowohl die Küche
meines Restaurants als auch die Rezepte im Kochbuch als
"dekolonialisiert". Wir verzichten weitgehend auf Zutaten, die erst mit
der Kolonialisierung nach Nordamerika gekommen sind, also etwa
Rohrzucker und Weißmehl.
ZEITmagazin ONLINE:
Das heißt auch: keine Cola, keine Hamburger – Dinge, die mir in den
Sinn kommen, wenn ich an die Küche der USA denke. Stattdessen finden
sich in Ihrem Kochbuch Rezepte für Tamales, also in Maisblättern
gedämpfter Maisteig, oder Tacos. Gerichte, die eher an die Küche Mexikos
erinnern.
Sherman: Die meisten Menschen assoziieren mit der US-amerikanischen Küche Fast Food. Dass die USA kulinarisch betrachtet auch eine indigene Geschichte haben, ist selbst den meisten Amerikanern nicht bewusst — noch nicht einmal denen, die sich als indigen identifizieren, wobei sich da in den vergangenen Jahren glücklicherweise einiges getan hat. Der Wissensmangel lässt sich damit begründen, dass die Esskultur der Native Americans im Zuge der Kolonialisierung systematisch unterdrückt und in großen Teilen zerstört wurde.
ZEITmagazin ONLINE: Dagegen kochen Sie an?
Sherman: Wir bemühen uns, die einheimische, lokale Küche Nordamerikas abzubilden. Ich koche rohrzucker-, laktose- und glutenfrei, primär pflanzenbasiert. Wenn es Fleisch gibt, dann Wild.
ZEITmagazin ONLINE: Klingt nach der Zutatenliste von ungefähr jedem momentan gehypten Restaurant der westlichen Welt.
Sherman: Absolut! Mehr als um einzelne Zutaten geht es in der indigenen Küche aber um eine bestimmte Lebensweise, ein Wertesystem, das indigene Kulturen gemein haben: der große Respekt vor Tier und Natur, die Verbundenheit mit der Erde und der Gemeinschaft.
ZEITmagazin ONLINE: Wie kam es, dass so eine Esskultur zerstört wurde?
Sherman: Weil die
europäischen Siedler nicht alle Native Americans besiegen konnten,
ordnete George Washington 1779 in einer Deklaration an, alle Ernten der
Indigenen zu zerstören und auch zu verhindern, dass neue angepflanzt
wurden. Man beraubte sie also gezielt ihrer Lebensgrundlage, zu der auch
der Bison zählte. Meine Vorfahren aßen sein Fleisch, nutzen die Felle
als Decken und Knochen als Werkzeuge, kurz, deckten die meisten ihrer
Bedürfnisse damit ab. Insgesamt töteten die Siedler 30 Millionen Bisons,
am Ende waren nur noch wenige Hundert übrig.
ZEITmagazin ONLINE: Sie haben damit versucht, eine ganze Kultur auszulöschen.
Sherman: Die
Unterdrückung dauert im Grunde bis heute an: Mein Kochbuch ist zum
Beispiel in Floridas Schulen verboten, wie auch einige Literatur, die
sich mit der Geschichte der USA aus der Perspektive der Schwarzen und
der LGBTQ-Community beschäftigt. Als wir während der Pandemie das
Restaurant Owamni eröffneten, gab es gerade mal einen anderen mir
bekannten Ort rund um Speisen der Native Americans in den USA.
ZEITmagazin ONLINE: Ehrlich gesagt assoziierte ich mit der kulinarischen Vergangenheit Nordamerikas lange vor allem Cowboys, die am Lagerfeuer sitzen und Bohnen essen.
Sherman: Die Bohnen waren natürlich zuerst Bestandteil indigener Küche Nordamerikas, es gibt sehr viele verschiedene Sorten, genau wie beim Mais. Eines meiner Grundrezepte sind zum Beispiel weiße Bohnen, die mit Zedernnadeln gekocht werden. Andere typische Zutaten sind Beeren, Wildreis, Kürbis, Süßkartoffeln, Ahornessig und Fisch.
ZEITmagazin ONLINE: Mir begegnet dort auch Löwenzahn als Zutat. Der stammt ursprünglich aus Europa, nicht aus Nordamerika.
Sherman: Das ist richtig und daran sehen Sie, wie kompliziert das in einigen Fällen ist. Die Küche und ihre Produkte wandeln sich konstant, das war in der Vergangenheit nicht anders. Auch von den Pferden heißt es, sie seien erst mit den Europäern nach Nordamerika gekommen. Dennoch sind die Tiere für die Lakotas fester Bestandteil der Lebensweise und Kultur geworden. Wir versuchen, in der Küche da die Grenze zu ziehen, wo unsere Community eine Beziehung zu einer Pflanze oder einem Tier entwickelt hat. Sei es, um sie zu essen, sie als Medizin zu verwenden oder weil sie sonst eine Rolle spielen.
ZEITmagazin ONLINE:
Auch das Konzept Restaurant gab es vor der Kolonialisierung in den USA
nicht. Die Küche der Native Americans in einem Restaurant
anzubieten, ist das Ihrer Logik nach nicht inkonsequent?
Sherman: Wir verstehen Essen als Sprache, mit der wir sowohl auf die Geschichte als auch die momentane Situation der Native Americans in den USA aufmerksam machen und gleichzeitig die Community unterstützen. Mit dem Restaurant erreichen wir einerseits internationale Aufmerksamkeit, andererseits schaffen wir überhaupt erst Zugang zu indigenem Essen. Das Restaurant ist an unsere Non-Profit-Organisation Natif gekoppelt. Wir haben damit rund 120 Arbeitsplätze geschaffen, 70 Prozent davon für Menschen, die sich als indigen identifizieren. Zudem beziehen wir viele unserer Zutaten von indigenen Produzenten.
ZEITmagazin ONLINE: Wenn ich durch das Kochbuch blättere, sehe ich dort eine Creme aus Räucherfisch und weißen Bohnen, geschmorten Kürbis mit Ahornsirup oder gedörrtes Kaninchenfleisch. Alle Teller sind so hübsch angerichtet wie im Sternerestaurant. So werden Ihre Vorfahren kaum gegessen haben.
Sherman: Die indigene Küche ist kein Museum. Aus den Geschmäckern, den Zutaten und mithilfe der Kochtechniken erschaffen wir moderne Gerichte. Aber man lernt typische Zutaten und den Umgang mit ihnen kennen. Das Dörren ist etwa eine Technik, die Sie sehr viel in der Küche der Native Americans finden, damit wurden Lebensmittel haltbar gemacht. Es zieht sich durch mein Buch wie ein roter Faden.
ZEITmagazin ONLINE: In Deutschland gibt es allein klimabedingt andere Pflanzen, Gemüsesorten und andere Tiere als in den USA. Lässt sich der regionale Charakter der Rezepte überhaupt übertragen?
Sherman: Wenn Sie asiatische Gerichte kochen, erwarten Sie vermutlich auch nicht, alles in Ihrem örtlichen Supermarkt zu finden. Aber in der deutschen Übersetzung gibt es tatsächlich viele Vorschläge, wie Sie Zutaten ersetzen können. Wenn Sie keine Zeder finden, greifen Sie zum Beispiel auf die Nadeln lokaler Nadelbäume zurück.
ZEITmagazin ONLINE: Sie sagten, Sie selbst sind kaum mit indigener Esskultur aufgewachsen. Wann haben Sie die Küche kennengelernt?
ZEITmagazin ONLINE: Wo setzten Sie bei ihrer Suche an?
Sherman: Ich vertiefte mich in historische Schriften, sprach mit indigenen Vereinigungen und den Alten. Die Generation meiner Großeltern weiß noch etwas, war aber auch die erste, die einen Assimilationsprozess durchlaufen musste. Die Ausübung der Religion wurde verboten, wer bei Zeremonien erwischt wurde, konnte ins Gefängnis kommen — ausgerechnet in den USA, der Nation, die aus dem Wunsch heraus gegründet wurde, Religion frei ausleben zu können. Meinen Großeltern wurden die Haare abgeschnitten, sie wurden in Internate gesteckt und dort christlich erzogen, viele erlebten Missbrauch und Gewalt.
ZEITmagazin ONLINE: Sie selbst tragen Ihre Haare zu zwei langen Zöpfen geflochten.
Sherman: Ich hatte sie immer mal wieder kurz, aber trage sie eigentlich schon mein ganzes Leben am liebsten lang, so fühle ich mich am wohlsten. Meistens flicht mir meine Freundin morgens einen Zopf. Wenn ich es selbst mache, flechte ich zwei, das ist für mich einfacher. So stören die Haare auch nicht beim Kochen.
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