Birk Grüling

Wissenschaft für kleine und große Leser:innen, Buchholz

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Plötzlich alleinerziehend - und ohne Rechte

Hannover. Die eigene Frau hat eine Affäre, ausgerechnet mit einem Familienvater aus der Nachbarschaft. Diese Erkenntnis trifft Peter Müller* wie ein Schlag. Im ersten Moment will er nur noch weg. Er will seine Sachen packen, zurück in die ostdeutsche Heimat ziehen und die Scherben der Beziehung einfach hinter sich lassen. Anderseits ist der drahtige Endvierziger niemand, der vor einer Verantwortung davonläuft. Also änderte Müller seine Pläne, als sein Stiefsohn Christoph* plötzlich morgens in der Küche stand und deutlich machte, dass er nicht zu seiner Mutter ziehen wolle. Zu seinem leiblichen Vater konnte der Junge nicht. Er hatte ihn nie kennen gelernt. „Da entschloss ich mich zu bleiben und die Vaterrolle zu übernehmen", sagt Peter Müller. Welche Schwierigkeiten diese Entscheidung mit sich bringen würde, ahnte der Stiefvater damals nicht.

Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums leben 14 Prozent aller Deutschen in einer Patchworkfamilie. Damit ist diese Familienform beinahe alltäglich geworden, wenngleich zu deren Normalität oftmals ganz besonders schmerzliche Trennungen gehören. Denn: Etwa jede zweite Patchworkbeziehung scheitert. Die Scherben dieser Partnerschaften mit oft komplizierten Beziehungsgeflechten aufzusammeln und zu sortieren, ist oftmals noch schwieriger als bei Trennungen in Familien mit traditioneller Konstitution.

Vom Stiefvater zum offiziellen Pflegevater

So ist es auch bei Peter Müller: Kurz nach dem Auszug seiner Exfrau erhält er erstmals Post vom Anwalt. Die Mutter möchte Unterhalt. Ihren 15-jährigen Sohn hat sie zu diesem Zeitpunkt schon länger nicht gesehen. Die Forderung wird abgewiesen. Als Nächstes versucht sie, Christoph per Gerichtsbeschluss zu sich zu holen. Ein Jahr dauert der nervenaufreibende Rechtsstreit. Zwischenzeitlich fordern die Richter den Stiefvater auf, den Kontakt zur Mutter zu erzwingen - auch gegen den Willen des Kindes. Peter Müller versucht das ihm Mögliche. Doch alle Vermittlungsversuche mithilfe des Jugendamts scheitern kläglich.

„Für uns beide war es eine schwere Zeit. Ich stand kurz vor einem Herzinfarkt. Auch Christoph litt sehr", sagt der Patchworkvater. Immer wieder muss der Junge wegen Magenschmerzen aus der Schule abgeholt werden. Seine Noten verschlechtern sich rapide. Die Mutter ignoriert die Probleme, zu gemeinsamen Arztterminen erscheint sie nicht. Ihre Energie und Zeit steckt sie lieber in die neue Beziehung. Der Stiefvater springt ein. Er geht zur Arbeit, kümmert sich um den Haushalt, pflegt seinen kranken Stiefsohn und besucht Elternabende. Dieses Engagement kostet ihn nicht nur den gut bezahlten Job als Logistikleiter, sondern er bewegt sich auch in einer rechtlichen Grauzone. Als Stiefvater darf der 48-Jährige eigentlich keine Entscheidungen für Christoph treffen. Bei jedem Arztbesuch oder Lehrergespräch muss er auf das Verständnis des Gegenübers hoffen.

Das ändert sich erst, als Müller dem Jugendamt die Pistole auf die Brust setzt. „Ich stellte die Sachbearbeiterin vor die Wahl, entweder es gibt eine klare Regelung oder ich gebe das Kind zurück", erzählt er. Innerhalb einer Woche wird er offiziell Pflegevater für Christoph. Die Mutter unterschreibt den Antrag „anstandslos", nachdem ihr die Behörde mit dem Entzug des Sorgerechts drohte.

Je jünger das Stiefkind, desto eher gelingt die Vaterrolle

Als alleinerziehender Bonusvater ist Müller ein echter Exot, wie Familientherapeut Wolfgang Krüger bestätigt. „Ziehväter akzeptieren mit dem Ende ihrer Beziehung oft auch die Trennung von dem Stiefkind. Das Scheitern der Liebe trifft sie emotional und sie suchen sich eher eine neue Partnerschaft", berichtet der Psychologe und Autor des Buches „Über-Leben in der Patchwork-Familie". Nicht selten verlieren sich beide Seiten im Laufe der Zeit oder durch neue Lebensumstände aus den Augen. „Ausnahmen gibt es vor allem, wenn die Patchworkbeziehungen sehr lange dauern und die Kinder bei der ersten Begegnung noch klein sind", sagt Krüger. Dann hätten die Männer bessere Chancen, sich ins Familienleben einzubringen und eine Vaterrolle für das Kind zu übernehmen.

Auch Müller lernte den Stiefsohn kurz nach seinem ersten Geburtstag kennen. „Wir haben uns sofort gut verstanden. Dabei war der kleine Junge Fremden gegenüber eher zurückhaltend", erinnert er sich. Nach sechs Monaten zieht die junge Familie zusammen und Müller übernimmt die Vaterrolle. Er bringt Christoph in die Kita, kocht das Essen, hilft später bei den Hausaufgaben und jubelt ihm bei Handballspielen zu. „Er wusste immer, dass ich nicht sein leiblicher Vater bin. Es war ihm freigestellt, wie er mich nennt", sagt Müller. Heute wird aus „Peter" oft ein beherztes „Papa".

Es kommt auf den Rechtsstatus an

In dem kleinen Männerhaushalt ist dank des neuen Rechtsstatus von Peter Müller als Pflegevater langsam Normalität eingekehrt. Ohne Zustimmung der Mutter kann er nun wichtige Dinge mit den Behörden oder der Schule regeln. Durch das Pflegegeld entspannt sich außerdem die finanzielle Situation - weder der leibliche Vater noch die Mutter zahlen Unterhalt. Auch einen neuen Job hat Peter Müller gefunden. Vom Home-Office aus kümmert er sich nun um die Aufträge einer kleinen Spedition. Zwar ist das Gehalt geringer als früher, dafür aber sind die Arbeitszeiten flexibel. So kann er sich noch um den Haushalt und seinen Sohn kümmern.

Einen Grund dafür, mit der neuen Rolle als alleinerziehender Vater zu hadern, sieht Müller nicht. „Wir haben gemeinsam viel Spaß. Christoph ist eine große Unterstützung im Haushalt und seine Noten sind wieder besser", sagt er. Auch die Mutter hält sich mit Anfeindungen inzwischen größtenteils zurück. Um sich endgültig von der turbulenten Zeit zu erholen, planen die beiden gerade einen gemeinsamen Urlaub. Zuerst wollten sie in die Karibik fliegen. Allerdings ist ein Urlaub von Pflegefamilien nur innerhalb der Europäischen Union möglich. Jetzt reisen sie nach Spanien, hier reicht eine einfache Zustimmung des Jugendamtes.

*Die Namen wurden aus Rücksicht auf die Privatsphäre der Familie von der Redaktion geändert.

Von Birk Grüling/RND

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