Alle vier Jahre untersucht das Sinus-Institut in einer Studie, wie junge Menschen in Deutschland ticken. Mitherausgeberin Silke Borgstedt über eine Generation zwischen Pragmatismus, Offenheit und dem Wunsch nach Zugehörigkeit.
Frau
Borgstedt, Flucht und Asyl sind seit einiger Zeit ein Dauerthema. Auch
die aktuelle Sinus-Jugendstudie legt darauf einen Schwerpunkt. Wie
stehen die 14- bis 17-Jährigen dazu?
Es gibt einen
grundlegenden Konsens: Wir leben in einem sicheren Land und wer in Not
ist, dem muss geholfen werden. Zugleich fragen sich Jugendliche, was die
Aufnahme von Flüchtlingen für ihr eigenes Leben bedeutet. Vor allem
Jugendliche in prekären Lebenssituationen, die sich teilweise als
Bildungsverlierer empfinden, haben das Gefühl, mit den
Leistungsstandards nicht mithalten zu können. Für sie ist Zuwanderung
durchaus auch Konkurrenz. Doch in der Regel dominiert eine offene
Grundhaltung.
Liegen dieser grundsätzlichen Offenheit bestimmte Wertvorstellungen zugrunde?
Gerade
die Gruppe der aktuell 14- bis 17-Jährigen sucht Halt und Zugehörigkeit
in einer komplexer gewordenen Welt. Dieses Prinzip des Zusammenhaltens
ist stärker ausgeprägt als die Bemühung, sich von anderen abzugrenzen.
Jenseits von Zusammenhalt und Verlässlichkeit haben – wie in der letzten
Studie vor vier Jahren – Werte wie Fairness und Höflichkeit deutlich
zugenommen. Diese sind auch weiterhin kombiniert mit den typisch
jugendlich ausgerichteten Werten: Spaß zu haben und sich auszuprobieren.
Wie wichtig ist Jugendlichen heutzutage die Religion?
Für
Jugendliche ist es nicht so wichtig, wer an welchen Gott glaubt, und
sie verurteilen religiös motivierte Konflikte. Unabhängig von dem
gesellschaftlichen Milieu, aus dem sie kommen, sind sie sich einig, dass
Diversität dazu gehört, auch wenn es immer wieder Konflikte geben wird.
Die Jugendlichen sind aufgewachsen mit dem Gefühl, in einem
Einwanderungsland zu leben. Für sie ist daher auch ein steigender Anteil
an Menschen mit Migrationshintergrund gelebte Realität.
Zugleich
erstarken in Deutschland politische Akteure, die Nationalität und
Nation betonen. Inwiefern spielt das für Jugendliche eine Rolle?
Der
Großteil von ihnen will sich als Europäer verstehen und ist nicht
darauf bedacht, das Deutschsein zu betonen und als etwas Besonderes zu
sehen. Der Bezug auf die eigene Nation und Nationalität ist eher
altbacken, ein „Elternding“. Dieses postnationale Verständnis bedeutet
allerdings nicht, dass es keine Ressentiments gegenüber Ausländern gibt.
Diese führen jedoch nicht zu einer Überhöhung der eigenen Nation,
sondern beispielsweise zur Frage, ob die Zusammensetzung der
Gesellschaft stimmt und ob genug für alle da ist. Da kommen auch
Existenzängste ins Spiel: Wie sieht es mit meiner Arbeitsstelle aus?
Oder: Kriege ich Wohngeld, wenn mehr Leute hierher kommen?
Wie beurteilen Jugendliche ihre Zukunftsperspektiven?
Das
hängt stark von der jeweiligen Lebenswelt ab. Insgesamt ist ihnen
bewusst, dass man bestimmte Ressourcen braucht, um gut zurechtzukommen.
Als Gesamtgruppe würde ich die Jugendlichen als zukunftspragmatisch
bezeichnen. Es gibt jedoch ein Themenfeld, bei dem uns mit Blick auf die
Zukunft Zurückhaltung begegnet ist: die Digitalisierung.
Inwiefern?
Wir
haben eine Art digitale Sättigung beobachtet. Es ist wohl die erste
Generation junger Menschen, für die Digitalisierung kein verlockendes
Versprechen, sondern eine anspruchsvolle Aufgabe ist. Sie denken dabei
auch an Überwachung und Kontrolle. Es beschäftigt sie, dass ihr
Arbeitgeber weiß, was sie wann gemacht haben, dass ihre Daten nicht
löschbar sind und wie ihre Privatsphäre geschützt wird. Bei Jugendlichen
mit höherem Bildungsgrad spielt auch der Verlust analoger Skills eine
Rolle. Sie bedenken also, dass wir uns stark von Technologien abhängig
machen, und überlegen, was passiert, wenn sie mal nicht zur Verfügung
stehen.
Gilt die kritische Einstellung auch für die sozialen Netzwerke?
Digitale
Sättigung heißt nicht, alles abzulehnen. Soziale Netzwerke sind ihnen
wichtig, wer da nicht drin ist, ist schon ein wirklicher Außenseiter.
Eine Woche ohne Smartphone unterwegs zu sein, kann man sich nicht
leisten. Doch es geht ihnen immer mehr auch um einen maßvollen Umgang,
also theoretisch ausschalten zu können. Digitalisierung ist komplett
entdramatisiert. Interneteuphorie ist etwas für Ältere.
Das
klingt alles nach einem sehr nüchternen Blick auf Probleme und
Herausforderungen. Die Jugendlichen wirken pragmatisch und
zielorientiert.
Stimmt. Sie versuchen jeweils ihren eigenen
Weg zu finden und sind weniger auf der Suche nach der großen Bewegung.
Die Bindungsdauer an soziale Gruppen hat sich stark verkürzt, etwa beim
sozialen oder politischen Engagement. Parteien sind für Jugendliche
Vereinsmeierei. Sie engagieren sich stattdessen kurzfristig,
beispielsweise unter einem Hashtag. Solche Bewegungen kommen und gehen
viel schneller. Oft wird nach der großen Jugendbewegung gefragt. Aber
auf welcher Basis soll die sich denn entwickeln? Wir haben eine lange
Periode permanenter Individualisierung und entsprechenden
Leistungsimperativen hinter uns. Ihr ganzes Leben lang wurde den jungen
Menschen gesagt, sie müssten sich selbst darum kümmern, voranzukommen
und ihnen ist bewusst, dass sie von den Früchten einer sogenannten
Solidargemeinschaft, zum Beispiel mit Blick auf die Rente, vermutlich
nicht oder kaum mehr profitieren werden.