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Der lange Weg zum grünen Stahl

Ein Stahlwerker arbeitet am Hochofen 1 von Thyssenkrupp in Duisburg: Bei der Herstellung von Stahl wird viel CO₂ freigesetzt. (Foto auf sueddeutsche.de: Rolf Vennenbernd/picture alliance/dpa)

Konzerne wie Thyssenkrupp verkaufen erste Tonnen Stahl mit besserer CO₂-Bilanz. Doch dahinter stecken oft Rechenkniffe - oder Atomstrom.

Nein, für gewöhnlich fährt Franz Kaldewei nicht selbst nach Duisburg, um Stahl zu kaufen. Sein Familienunternehmen stellt recht kostspielige Badewannen und Waschbecken her - nicht aus Keramik oder Plastik, sondern aus Stahl-Emaille, einer Mischung aus Metall und Glas. Doch nun steht Kaldewei, grauer Anzug, schwarzer Helm, in einer riesigen Lagerhalle von Thyssenkrupp.

Der Badausstatter hat nicht nur 300 Tonnen Stahl bestellt, er nimmt auch ein Zertifikat mit zurück ins Münsterland: Dieser Stahl, so steht es bescheinigt, habe einen 70 Prozent kleineren CO₂-Fußabdruck als herkömmliche Ware. "Gerade in der Architektur ist nachhaltiges Bauen ein Riesenthema", sagt Kaldewei. Da komme man an seinen Wannen bald hoffentlich nicht mehr vorbei.

70 Prozent weniger CO₂, das klingt revolutionär für eine Stadt wie Duisburg. Seit 130 Jahren wird hier Stahl gekocht - nach kaum verändertem Rezept: Erz wird mit Kohle zu Roheisen reduziert und zu Stahl verarbeitet. Doch die Klimabilanz ist schlecht. Allein das Thyssen-Werk in Duisburg verursacht zwei Prozent aller Treibhausgasemissionen Deutschlands.

Es gibt zwar ein Zukunftsrezept: mit Ökostrom und Wasserstoff. Aber bis die nötigen Anlagen stehen, versucht die Branche, das ökologisch Günstigste aus den Hochöfen herauszuholen. Sie fängt nun an, Stahl zu verkaufen, der das Klima wenigstens ein bisschen schützt. Doch wer hinter die Labels blickt, landet in Rechenkniffen. Oder - in einem anderen Fall - bei französischem Atomstrom.

Hersteller von Autos, Kühlschränken oder Waschmaschinen wollen grünen Stahl kaufen

Thyssenkrupp versucht vor allem, weniger Kohle einzusetzen. Dafür nutzt Deutschlands größer Stahlhersteller erste Mengen Eisenschwamm. Das ist bereits reduziertes Eisen, derzeit wird es noch mit Erdgas in Russland hergestellt. Zudem setzt Thyssenkrupp mehr Schrott im Hochofen ein. In beiden Fällen braucht man weniger Kohle, es entweicht weniger CO₂.

Diese Einsparungen lässt sich der Konzern auf einen kleinen Teil der Produktion anrechnen. Firmen wie der TÜV Süd überprüfen die Kalkulation. So will Thyssenkrupp im kommenden Jahr 50 000 Tonnen CO₂-armen Stahl verkaufen. Das entspricht freilich nur etwa 0,5 Prozent der Jahresproduktion. "Bis 2024 soll die Menge auf 500 000 Tonnen steigen", sagt Spartenchef Bernhard Osburg. Komplett grün ist der Stahl nicht; Vorprodukte wie Eisenschwamm wollen ja auch hergestellt und transportiert werden.

Was ist von derlei Rechentricks zu halten? "Bilanziell grüner Stahl kann eine sinnvolle Zwischenlösung sein", sagt Nicole Voigt, Stahlexpertin der Boston Consulting Group (BCG). Denn wirklich "grünen" Stahl mit Wasserstoff werde es nicht vor 2025 in beträchtlicher Menge geben. "Die Hersteller können den Markt schon mal testen", so die Unternehmensberaterin. "Und es gibt bereits eine Nachfrage." Gerade Hersteller von Autos, Kühlschränken oder Waschmaschinen wollen mehr grünes Material einsetzen. "Das setzt Stahlhersteller unter Druck", sagt Voigt.

Es ist nicht leicht ersichtlich, was drinsteckt, wenn grüner Stahl draufsteht

Fest steht, dass Thyssenkrupp mit der Zwischenlösung nicht allein ist. Deutschlands zweitgrößter Stahlhersteller Salzgitter liefert seit diesem Sommer "grünen" Stahl an Mercedes-Benz und die Hausgerätefirma BSH. Die Ware stammt aus einem Lichtbogenofen, der vor allem mit Schrott und viel Strom gefüttert wird. Der entsprechende Stahl hat einen 66 Prozent niedrigeren CO₂-Fußabdruck im Vergleich zur Hochofen-Route.

Auch Saarstahl walzt neuerdings CO₂-armen Stahl - zunächst zu Draht für den Bau. Hier kommt die Ware aus dem Lichtbogenofen einer Konzerntochter in Frankreich; der Strom stammt dort zu etwa 75 Prozent aus Atomkraftwerken.

BCG-Expertin Voigt befürchtet einen gewissen Wildwuchs an neuen Marken für CO₂-armen Stahl. "Für Abnehmer ist nicht leicht ersichtlich, was genau drinsteckt, wenn grüner Stahl draufsteht", sagt die Unternehmensberaterin. Ihrer Ansicht nach bräuchte es einheitliche Kriterien, die etwa Branchenverbände definieren könnten.

Und mit Schrott im Lichtbogenofen lassen sich nicht alle Stahlqualitäten herstellen. Daher brauchen Stahlhersteller langfristig einen Ersatz für ihre Hochöfen. Thyssenkrupp und Salzgitter wollen jeweils bis 2025 eine erste sogenannte Direktreduktionsanlage bauen. Sie stellt Eisenschwamm her, der dann zu Stahl weiterverarbeitet werden soll. Statt mit Kohle kann eine solche Anlage mit Erdgas oder Wasserstoff betrieben werden. Praktisch CO₂-frei wird das, wenn der Wasserstoff mit viel Ökostrom aus Wasser gewonnen wird.

Die Badewanne mit grünem Stahl soll etwa zehn bis 20 Prozent teurer sein

Doch die neuen Anlagen werden einige Milliarden kosten. Die Hersteller haben staatliche Zuschüsse beantragt, da Klimaschutz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei; sie verweisen etwa auf die Förderung von Elektroautos und deren Ladesäulen. Neben den Anlagen brauchen sie auch Transportleitungen für Wasserstoff - und viel grünen Strom für dessen Erzeugung.

In den vergangenen Jahren hat die Stahlindustrie in Europa an Bedeutung verloren. Weltweit verlagert sich die Produktion mehr und mehr in Staaten wie China oder Indien - mit vergleichsweise niedrigen Löhnen und Auflagen. Insofern sehen manche den Klimaschutz als Chance: "Der Markt für grünen Stahl ist noch längst nicht aufgeteilt", sagt BCG-Beraterin Voigt. "Noch ist der Zug für deutsche Hersteller nicht abgefahren."

Und ist der erste CO₂-arme Stahl nun teurer als der gewöhnliche? Ja, sagt Thyssenkrupp-Manager Osburg. Beispielsweise schlage der Bezug und Transport des Eisenschwamms zu Buche. Gleichwohl sei sein Konzern schon "mit einer Reihe weiterer Kunden in Gesprächen".

Abnehmer Kaldewei schätzt, dass seine Produkte mit dem CO₂-armen Stahl um zehn bis 20 Prozent teurer werden als die herkömmliche Serie. Das könne aber nur eine erste Indikation sein, sagt der Unternehmer. Er plant zunächst eine "limited Edition": Die erste Bestellung werde wohl nur für etwa 10 000 Wannen und Becken reichen.

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