Anne Fischer

Freie Journalistin und Texterin, Dresden

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Aus besserem Bruch

Aus besserem Bruch

Marmor ist ein edler und nachhaltiger Baustoff: langlebig, robust, sogar regional zu beziehen. Wäre bloß der Abbau nicht oft so katastrophal für Mensch und Umwelt. Ein Südtiroler Unternehmen will das ändern.

Knapp zwölf Grad Celsius hat das Wasser unter dem Ruderboot. Es ist so surreal türkis, als habe jemand es mit einem Disney-Fotofilter bearbeitet. Dieser südseehaft anmutende See, an manchen Stellen bis zu 15 Meter tief, befindet sich unter Tage, im Inneren eines Berges in den Südtiro- ler Alpen. Sabine Patscheider, Produkt-Managerin bei Lasa Marmo, und Steinbruchleiter Hans Hauser rudern darüber. Obwohl beide viele Berufsjahre mit dem Marmor verbinden, ist die Bootspartie auch für sie besonders.

Denn nur in den zwei Wochen rund um den Jahreswechsel, wenn die Wasserpumpen ausgeschal-
tet werden und der Abbau ruht, können sie den Weißwasserbruch mit dem Boot befahren. Der auf 1.567 Metern Meereshöhe gelegene Bruch läuft dann in rund 48 Stunden mit zehn Millionen Litern Wasser voll. Mit der natürlichen Flutung spart Lasa Marmo Energie. Das gehört zum nachhaltigen Konzept, mit dem das Unternehmen den Marmorabbau möglichst ökologisch gestalten will. Hier im Nationalpark Stilfser Joch in Südtirol gelten strenge Umweltauflagen, erteilt von den Landesämtern für den Nationalpark, den Gewässerschutz und Geologie. Von außen würde keiner den beeindruckenden Untertage-Bruch erwarten, der sich Hunderte Meter tief im Inneren des Berges verbirgt. „Wir betreiben keinen Raubbau, bauen jährlich maximal 11.000 Tonnen netto ab, und das minimalinvasiv“, sagt Bruchleiter Hans Hauser. Er hat im Tiefbau gelernt und sich das spezielle Wissen über den Marmor bei der Arbeit im Bruch angeeignet. Hauser weiß genau, wo welche Marmor-Varietät zu finden ist.

Der weiße Laaser Marmor, vor Ort gern poetisch gepriesen als „rein wie frisch gefallener Schnee“, ist nicht nur optisch schön, sondern auch ausgesprochen hart und witterungsbeständig. Chlor und Tausalze können ihm nichts anhaben, er leitet Wärme gut. Ihn zu gewinnen und zu bearbeiten, beansprucht – wie bei allen Natursteinen – weniger Energie als bei anderen Materialien. Das macht Naturstein generell zu einem schadstofffreien, eben natürlichen Baustoff, der Beton und Co ökologisch voraus ist.
Aber nur, wenn er auch nachhaltig abgebaut und verarbeitet wird. So bedächtig wie in Laas geht es nicht überall zu. Wer an fragwürdigen Naturstein denkt, dem kommen vielleicht zuerst Medienberichte über indische Steinbrüche in den Sinn. Tatsächlich herrschen dort oft katastrophale Bedingungen, schuften Minderjährige, sterben ausgebeutete Arbeiterinnen und Arbeiter aus Mangel an Schutzausrüstung an Silikose: Der Steinstaub setzt sich in ihren Lungen fest, sie ersticken. Alles, um die Kosten für importierten Naturstein so niedrig wie möglich zu halten. Solche Auswüchse der Branche gibt es allerdings nicht nur Tausende Kilometer entfernt. 500 Kilometer südlich des Marmordörfchens Laas, im toskanischen Carrara, sind sie ebenfalls Alltag.

Der Fluch des weißen Goldes

Von hier, aus den Apuanischen Alpen, stammt der Marmor, aus dem Michelangelo einst seinen David haute und die Säulen-Kolonnaden am Petersplatz in Rom gefertigt wurden. Außerdem der Marmor, aus dem heutzutage Prestigeprojekte wie moderne Moscheen, gleißend weiße Einkaufszentren und opulente Casino-Fassaden entstehen, sowie Wandverkleidungen, Küchenar- beitsplatten, Badewannen, Bodenplatten und vieles mehr. Das Geschäft mit dem Marmor floriert seit Jahrhunderten.
Bis in die Achtzigerjahre stand die Region Carrara für traditionsreiche Handwerkskunst. Hier versammelten sich größere und kleinere Werkstätten, renommierte Künstler und viele Händler. Doch inzwischen prägt die Profitgier einiger weniger die Region, das durchdringende Piepen riesiger Radlader ist die allgegenwärtige Geräuschkulisse in den Bergen. Denn in den Marmorbrüchen von Carrara, die allesamt hoch oben über der Stadt liegen, werden hundert Mal mehr Blöcke abgetragen als noch vor dreißig Jahren. Und all diese Blöcke müssen hinunter ins Tal. Tagein, tagaus schieben sich deshalb LKW enge Schotter-Serpentinen hinauf und hinunter – und bringen jede Menge Marmorstaub mit.

Früher, so erzählen es Brucharbeiter, habe sich ein Bruch innerhalb eines Jahres kaum verändert. Heute erkenne man ihn schon nach zwei Wochen nicht mehr wieder. Die Berge schrumpfen in unglaublicher Geschwindigkeit, akribisch aufge- bohrt und zersägt mithilfe modernster Bergbau-Technik. Pro Jahr werden in den Steinbrüchen Carraras rund fünf Millionen Tonnen Marmor abgebaut. Manche Umweltschützer fürchten, dass es sogar noch mehr sind. Wofür? Das hat sich stark verändert: Nur noch 25 Prozent des Marmors dienen als Rohstoff für Bauprojekte oder Kunst. Der Großteil wird zerkleinert und zermahlen, zu feinem Calciumcarbonat-Mehl. Als der italienische Industrielle Raul Gardini Ende der Achtzigerjahre die Idee hatte, die Abfälle des Marmorabbaus weiterzuverarbeiten, war nicht absehbar, dass sich daraus ein Geschäft entwickelt, das Marmor als Baustoff ablösen würde. Calciumcarbonat ist heute Zutat von Zahnpasta, Papier, Farben, Klebstoff, Düngemitteln und vielen anderen Produkten, die eine Schleif- oder Verdickungskomponente brauchen.

Arbeitslosigkeit und Raubbau in Carrara

Einem nachhaltigen Ressourcenverbrauch hat Carrara längst den Rücken gekehrt. Dazu hat auch eine folgenreiche politische Entscheidung beigetragen: Das Gesetz, das die Bruchbetreiber zur Verarbeitung des Marmors vor Ort verpflichtete, wurde aufgeweicht. Seitdem können sie ihre Blöcke direkt ins Ausland verkaufen und dort billiger weiterverarbeiten lassen. Ein weiteres Gesetz, das ewig geltende Abbruchrechte festlegt, würden einige politische Entscheider ebenfalls gern kippen. Sie wollen die Rechte öffentlich ausschreiben – damit die Investoren mit den üppigsten Geboten zum Zug kommen können. Die Kritik von Gewerkschaftern, die auf die stark steigenden Arbeitslosenquoten und
die Firmenschließungen vieler lokaler Verarbeiter und Händler hinweisen, wiegeln sie ab. Der Marmor-Sektor sei nach wie vor regional geprägt und schon viel nachhaltiger geworden.

Umweltschützer nennen den Marmorabbau in Carrara hingegen eine der schlimmsten Umweltkatastrophen Europas. Nicht nur, dass Abbau-Grenzwerte missachtet werden und der illegale Abbau das Ökosystem in den Bergen stört, erhöht illegal entsorgter Marmorschutt rund um die Brüche auch das Risiko von Erdrutschen. Und dann ist da noch die Marmittola: Der milchige Schlamm aus Wasser und Marmorstaub verdreckt die Flüsse, die ins Tal fließen und setzt sich überall als harte, undurchdringbare Schicht ab. Der Boden kann deshalb kein Wasser aufnehmen, und in Carrara kommt es immer häufiger zu Überschwemmungen. Das hydrogeologische Gleichgewicht ist in Gefahr.

Ein gescannter Berg

„Hier in Laas beobachten wir die Entwicklung in Carrara sehr genau“, sagt Erich Tscholl, Betriebsdirektor von Lasa Marmo. Er fühlt sich angespornt, zu beweisen, dass es geht: umweltfreundlicher Abbau und fairer Handel. Die Laaser haben ihren Weißwasserbruch in Zusammenarbeit mit Geologen systematisch gescannt und vermessen: Der gesamte Bruch wurde als 3D-Modell kartografiert. Dazu kommen Probebohrungen von bisher insgesamt vier Kilometern. Sie weisen auf Verwerfungen, Wassereintrittsstellen und andere Anomalien hin. Seismologische Messungen komplettieren das Modell, denn sie zeigen, wie das Marmorriff innerhalb des Berges verläuft. Das Ergebnis ist eine Art Lageplan: Er lokalisiert die Marmor-Adern, die es wert sind, abgebaut zu werden, mit einer Genauigkeit von eins bis drei Zentimetern. Dank dieses detaillierten Wissens kann Lasa Marmo unvergleichbar gezielt abbauen und erreicht so eine überdurchschnittlich hohe Netto-Ausbeute. Auf Sprengungen verzichteman weitestgehend – das ist nicht nur ökonomischer, weil so keine unnötigen Risse in die Marmorbank getrieben werden, es schont auch den Berg. Theoretisch, sagt Betriebsdirektor Tscholl, hätte er die Erlaubnis, etwa doppelt so viel Marmor abzubauen. „Aber unser Ansatz ist nicht, möglichst viel aus dem Berg rauszuholen und einfach einzulagern. Wir bauen gezielt für Kunden und Projekte ab.“

Rissige, nicht verwertbare Blöcke und den Schlamm, der auch in Laas in der Produktion entsteht, verwendet das Unternehmen, um jene Stollen im Marmorbruch aufzufüllen, in denen nicht mehr abgebaut wird. Die jährlich rund dreitausend Tonnen Marmor-Reste aus der Produktion, die komplett vor Ort stattfindet, werden zu Pflastersteinen, Splitt und Sand weiterverarbeitet. Das nächste Ziel hat Tscholl schon im Blick: Lasa Marmo soll das erste emissionsneutrale Abbauunternehmen werden. Er denkt zum Beispiel an wasserstoffbetriebene LKW, die den Marmor ins Tal transportieren, und will ein Stromwerk an das Pumpensystem des Weißwas- serbruchs anschließen: „Wir müssen das Wasser, das aus dem Berg kommt und zum kleinen Teil für den Abbau verwendet wird, sowieso ableiten. Warum sollten wir diesen Umstand nicht nutzen?“ Die Pläne für eine eigenes E-Werk, das den gesamten Eigenbedarf beim Abbau decken könnte, liegen bei den Behörden zur Genehmigung. Von öffentlichen und privaten Bauherren wünscht Tscholl sich mehr Bewusstsein für die großen Zusammenhänge. Denn mit nachhaltigem Marmor verhält es sich letztlich wie mit nachhaltiger Mode oder nachhaltigem Fleischgenuss: Marmor aus Laas ist teurer als der aus anderen Brüchen. Allerdings nur, wenn man beim massenhaft abgebauten Naturstein die sozialen und ökologischen Kosten nicht einrechnet.

erschienen in 20er Nr. 220 / Ausgabe Dezember/Januar 2021