Was Vera Meyer da in Händen hält, könnte ein Baustein für die Weltrettung sein. Nicht ziegelrot, nicht betongrau, sondern weißlich, mit braunen Flecken und federleicht, geformt aus Pilzmaterial. Ginge es nach der 52-jährigen Biotechnologin, würde man die Häuser der Zukunft aus einem solchen Baustoff errichten. Nachhaltig und langlebig. Meyers Institut für Angewandte und Molekulare Mikrobiologie liegt in einer alten Berliner Klinkerfabrik, in der einst die AEG residierte. Ähnlich wie dort früher Elektroenergie die industrielle Revolution befeuerte, soll jetzt Biotechnologie die grüne Ökonomie voranbringen; ein Wirtschaften, das Material einspart, Biomasse als Rohstoff abfallfrei abbaut und dem Kreislauf des Lebens wieder zuführt. Und ausgerechnet jene Lebewesen, die viele nur als Beilage auf ihren Tellern kennen, spielen bei dieser Vision eine immer wichtigere Rolle: .
Ihre sichtbaren, essbaren Körper sind die Oberfläche einer gigantischen Terra incognita. Unterirdisch nämlich wächst ein riesiges Pilzgeflecht, das Myzel. Fadenförmige Zellen, die Hyphen, tasten sich vor, verzweigen sich und verschmelzen wieder. Auf der Suche nach Nährstoffen und Wasser durchziehen sie ganze Territorien. Wer diesen Vormarsch steuert, bleibt verborgen. Anders als Tiere besitzen Pilze kein Gehirn, anders als Pflanzen betreiben sie keine Fotosynthese. "Pilze bilden ein eigenes Königreich", sagt Vera Meyer. Rund sechs Millionen Arten gebe es, erst 140.000 davon seien beschrieben.
Die Biotechnologin erforscht seit 15 Jahren den Schimmelpilz Aspergillus niger und ist noch immer fasziniert, "wie unendlich vielgestaltig und anpassungsfähig Pilze sind". Je besser Meyer dieses Königreich kennt, desto überzeugter ist sie: "Eine Pilzrevolution steht uns bevor." Das glauben auch andere Wissenschaftler. "Disruptiv" nennt ein Weißbuch der Forschergruppe "Eurofung" Pilzinnovationen, mit denen in aller Welt experimentiert wird. In der Zeitschrift Scientific American werden die Organismen als künftige Rohstofflieferanten für Gebäude, Möbel, Isoliermaterial, Textilien oder Lederersatz gepriesen.
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Die Suche nach den Pilzrevolutionären führt deshalb nicht nur zum Institut von Vera Meyer, sondern auch nach Hamburg, wo ein Start-up aus Pilzen den perfekten Fleischersatz entwickeln will, nach zu einem Unternehmen, das mit Pilzen biologische Alternativen zu Chemieprodukten entwickelt. Und schließlich nach Leipzig, wo Forscher mit ihrer Hilfe Umweltgifte beseitigen wollen
Aber jetzt zurück nach : Vera Meyer hebt ein Holzstück vom Boden hoch, darauf ist ein weißgelblicher Zunderschwamm gewachsen. "Er ernährt sich, indem seine Myzelien von innen das Holz zersetzen und sich mithilfe seines Kohlenstoffs Energie erschließen", sagt Meyer, "das versuchen wir nachzumachen." In einem anderen Labor zeigt Meyer, wie sie das meint. Hier wird das Fadengewebe des Zunderschwamms erst zwei Wochen lang mit Hirse gefüttert. Dann wird das weiße Pilzgeflecht umgetopft und wächst weiter in eine Kastenform hinein, bis sich der Baustein ausreichend verdichtet hat. "Diesen Prozess müssen jetzt Bioingenieure für industrielle Verfahren optimieren", sagt Meyer. "Schall, Druck, hohe Temperaturen: Das Verbundmaterial hält viel aus, und es kann beliebige andere Formen annehmen." An einer Wand des Instituts hängen auch die Büsten zweier Mitarbeiter - aus Pilzmaterial.
Während es die Professorin auf Myzelien abgesehen hat, nutzt man in Dänemark vor allem die Zersetzungskräfte der Lebewesen. Pilze fressen auch abgestorbenes Wurzelwerk, vertrocknetes Laub oder Tierkadaver, und zwar mithilfe von Enzymen, auch Fermente genannt. Solche Eiweißmoleküle können Faserproteine, Zellulose und Hemizellulose in den Zellwänden der Pflanzen aufspalten. "Pac-Man" nennen Forscher sie oft ihrer Gefräßigkeit wegen, in Anspielung auf das großmäulige Männchen aus einem Videospiel der Achtzigerjahre. Die Pilz-Pac-Men sorgen dafür, dass der Kohlenstoff in den Untergrund kommt und anderen Mikroorganismen und Kleinlebewesen zugänglich gemacht wird, die am Humusaufbau beteiligt sind. Die seltsame Gattung der Pilze hat damit eine unverzichtbare Rolle als Ökosystemingenieurin.
Im Kopenhagener Vorort Bagsværd arbeitet die Pilzforscherin Sara Landvik für Novozymes, einen Pionier der Enzymindustrie. Landvik schlägt ihren Kollegen Pilzarten vor, die helfen könnten, passgenaue biologische Wirkstoffe für die Entwicklung neuer Industrieprodukte und -herstellungsverfahren zu erzeugen. Dabei geht es meist um die Frage: Wie lassen sich Energie und Rohstoffe einsparen? Solche Innovationen gewinnen angesichts steigender Preise für Gas, Öl und Agrarprodukte an Wichtigkeit, auch als Instrument für den Klimaschutz. Auch dank einer enormen Sammlung von Pilzmustern ist Novozymes mittlerweile weltweit aktiv.