Helene Hegemann hat sich verändert. Man könnte sagen: Sie ist erwachsen geworden, eine schmale Frau, die im Sessel des Kaminzimmers des Hotel Oderberger in Berlin-Prenzlauer Berg fast versinkt. Das einst weiche Teenagergesicht trägt jetzt scharf geschnittene Züge. Zu ihren Füßen sitzt ihr Hund Charlie.
...wurde 1992 in Freiburg geboren. Sie wuchs bei ihrer Mutter, einer Theatermalerin, in Bochum auf. Als Hegemann dreizehn Jahre alt war, starb die Mutter.
... zog dann nach Berlin zu ihrem Vater, dem Volksbühnen-Dramaturgen Carl Hegemann. Sie verbrachte viel Zeit im Theater und begann selbst zu schreiben.
... erhielt, als sie sechzehn war, für ihr erstes Drehbuch „Torpedo", in dem unter ihrer Regie u. a. Jule Böwe und Lars Eidinger zu sehen sind, den Max-Ophüls-Preis.
... gab ihr literarisches Debüt 2010 mit „Axolotl Roadkill". Von der Kritik zunächst hoch gelobt, sorgte sie dann für Aufsehen, weil sie Textausschnitte des Bloggers Airen in ihr Manuskript montiert hatte.
... hat sie den Roman jetzt verfilmt. Weltpremiere hatte „Axolotl Overkill" auf dem Sundance Festival. Seit dem 29. Juni läuft der Film in den deutschen Kinos.
Sie ist eine aufmerksame Zuhörerin, die ihre Antworten mit Bedacht wählt, ihren Gedanken eine Aussage eher abringt, darum kreist, statt sie zu Pointen zu verknappen. Keine Phrasen, kein Bullshit. Die Frau hat was zu sagen.
Hatte sie vermutlich schon immer, nur schob sich damals, nach der ersten Euphorie über ihren Debütroman „Axolotl Roadkill", diesem wilden Ritt der 16-jährigen Mifti durch die Berliner Nacht, voller Drogen, Sex und Techno, etwas dazwischen, was schnell das Label „Skandal" bekam.
Weil die Autorin selbst erst siebzehn war, Tochter des Volksbühnen-Dramaturgen Carl Hegemann. Musste die das nicht alles selbst erlebt haben, um so darüber schreiben zu können?
Weil dann aber herauskam, dass sie Szenen des Bloggers Airen übernommen hatte, ohne sie zu kennzeichnen.
Alles stand dann infrage, vor allem das Mädchen selbst. Dass sie mit ihrem zweiten Roman „Jage zwei Tiger" endgültig bewies, dass sie eine große Schreiberin ist, fand eher leise Anerkennung in den Feuilletons. Jetzt, sieben Jahre später, hat sie ihren skandalisierten Roman verfilmt. Sie hat das Drehbuch geschrieben und Regie geführt. „Axolotl Overkill" ist ihr Film.
Und er ist toll geworden: unterhaltsam, humorvoll, mitreißend, ohne gefällig zu sein. Seit Donnerstag ist er in den Kinos zu sehen.
Mit sechzehn haben Sie schon mal einen Film gedreht, „Torpedo". Damals haben Sie gesagt: Sie wollten einen Film über die machen, die sonst einen Film über Sie als Teenager machen würden. Jetzt sind Sie selbst „eine von denen". Wie nah dran sind Sie noch an Ihrer Protagonistin?Ich habe das ja selbst geschrieben und hatte deshalb jede Art von Freiheit, das zu transformieren. Die Darstellerin, die Mifti spielt, ist 27 Jahre alt und keine von der Straße weggecastete Gymnasiastin. Es ging nicht darum, zu zeigen: So sind die Kids von heute drauf.
Das wäre wohl auch kaum möglich, so schnell, wie sich das verändert.Die Kids von heute sind dermaßen divers. Wie willst du eine Generation auf einen Nenner bringen, wenn es den Begriff Generation gar nicht mehr richtig gibt? Deswegen fand ich es umso interessanter, dieses Alter nur als Rahmen zu nehmen und von einem Menschen zu erzählen, der sich jenseits von Geschlechterzuordnungen, Geburtsjahrgängen und sozialen Schichten bewegt. Man kann Mifti nicht zuordnen. Sie sieht gleichzeitig aus wie fünf und wie dreißig.
Die Frauen in Ihrem Film verhalten sich sowieso völlig untypisch: Sie rauchen und trinken, sind unberechenbar, triebgesteuert, bedrohlich, brutal und kaputt.Es ist ja nicht so, dass es solche Frauen nicht gibt. Und was heißt schon „solche Frauen"? Die sind ja grundunterschiedlich. Was sie gemeinsam haben, ist eine bestimmte Queerness. Aber vielleicht sind diese Frauen gar nicht so besonders, sondern es ist der Film. Weil er sie nicht nur zeigt, wie sie sich miteinander über einen Mann unterhalten. Der berühmte Bechdel-Test...
... den die Autorin Alison Bechdel 1985 entwickelt hat, um weibliche Stereotype in Filmen zu entlarven. Drei einfache Fragen: Kommen mehr als zwei Frauenfiguren vor? Sprechen sie miteinander? Reden sie über etwas anderes als einen Mann? Diesen Test besteht „Axolotl Overkill".Die Protagonistinnen verhalten sich, als hätte es nie einen Unterschied zwischen den Geschlechtern gegeben. Du denkst keine Unterdrückung der Frau mit, wenn du den Film siehst. Dazu fällt mir eine Anekdote von den Dreharbeiten ein, kann ich die erzählen? Ist auch ganz kurz...
Da gibt es diese Szene, in der Mifti einen Taxifahrer überredet, mit ihr Sex zu haben. Mir ging es darum, dass eine Frau sich selbstbestimmt an einen Mann wendet, den sie nicht kennt, ohne dafür bestraft zu werden. Die will Sex mit jemanden, der könnte gefährlich sein, wäre er wohl auch in einem anderen Film, es funktioniert aber. Weil es offenbar eine Welt ist, die da gezeigt wird, in der eine 16-Jährige nicht davon ausgehen muss, von einem 36-Jährigen vergewaltigt zu werden.
Der Taxifahrer tut einem fast leid, wie der von Miftis Zielstrebigkeit überrumpelt wird.Eine Redakteurin, die ich sehr schätze und die sich auch für eine Feministin hält, sagte zu der Szene: dass da doch zugunsten der Story etwas passieren muss: Die muss gefickt werden, die muss vergewaltigt werden. Das hat mich wahnsinnig irritiert.
Was hat Sie daran gestört?Die Hauptfigur vergewaltigt werden zu lassen, damit Leute nicht aus dem Film aussteigen, das fand ich pervers. Dann denken doch wieder alle Mädchen: Ach, jetzt wird es wieder bestätigt, ich werde vergewaltigt, wenn ich meinen Bedürfnissen folge. Da steckt vielleicht auch eine Wahrheit darüber drin, warum Filme immer noch Frauenfiguren zeigen, die irgendwie beschnitten sind, wie amputiert, die weiß Gott nicht den gleichen Handlungsspielraum haben wie Männer, egal, wie tough sie sind oder ob sie mit einer Knarre rumfuchteln. Die müssen betrübt im Hintergrund stehen, alles im Griff haben, dürfen keine Trottel sein und müssen dann, als Kritik an den Verhältnissen, doch bitte auch noch vergewaltigt werden. Das ist natürlich schrecklich.
Sind Sie Feministin?Ich würde jetzt nicht von links nach rechts laufen und schreien: Ich bin Feministin. Das müsste ich aber wahrscheinlich tun. Denn das Wort ist ja ein sehr simples, da kann man auch durch noch so viele Definitionen nicht dran rütteln: Da geht's um jemanden, der überzeugt ist, dass Frauen die gleichen Rechte haben sollten wie Männer. Wenn man das auslebt, ist man eine, zwangsläufig, oder? Egal, ob's Spaß macht oder nicht. Und egal, ob der Begriff gerade hoch im Kurs ist oder nicht.
Zumindest könnte man erwarten, dass Sie sich als Sprachrohr verstehen. Es ist noch immer etwas Besonderes, als Frau Regie zu führen. Ihnen würde man zuhören, wenn Sie Ihre Stimme erheben.Mich hat dazu noch niemand aufgefordert. Schade eigentlich.
Soll ich mich positionieren? Mach ich gerne.
Dann habe ich gleich noch ein anderes Label für Sie: „Axolotl Overkill" läuft in Tel Aviv auf einem LGBT-Festival. Nun ist die Sexualität der Protagonistinnen ja eher ambivalent, sie haben etwas mit Männern und mit Frauen. Ein wirklicher Lesbenfilm ist es nicht.Vielleicht ist er das doch. Natürlich hat die Protagonistin auch etwas mit Männern. Aber ihr Love Interest ist eine Frau. Warum soll man dann nicht sagen, dass es ein Lesbenfilm ist? Warum sagt man so etwas nicht? Weil es den Film irgendwie stigmatisiert. Obwohl es darin mit einer Nonchalance erzählt wird und es eben niemals als Problem betrachtet wird, dass Miftis Liebe kein Mann ist, sondern eine 46-jährige Frau. Nicht mal das Alter wird problematisch gehandhabt. Die sind einfach verknallt ineinander. Es geht um eine Lovestory.
Vor zwei Jahren waren Sie mit Ihrer damaligen Lebenspartnerin, der Journalistin Andrea Hanna Hünniger, auf dem Cover der Emma zu sehen...Da wird man im Übrigen nicht vorher gefragt, ob man das will oder nicht.
Es sah aus, als würden Sie zu einer lesbischen Galionsfigur erhoben. Sehen Sie sich als solche?Ich bin glücklicherweise, seit ich vierzehn Jahre alt war, in einem Umfeld aufgewachsen, in dem es keine Rolle spielte, in wen man sich verliebt. Wirklich nie. In dem man sich nie als irgendwas bezeichnen musste. Das könnte der Grund dafür sein, dass ich nie die Notwendigkeit verspürt habe, mich einer Szene zugehörig zu fühlen. Was nicht bedeutet, dass man sich davon distanziert. Ich selbst hätte es aber nicht thematisiert.
Wie Andrea Hanna Hünniger in einem Essay für die Zeitung Die Welt, in dem sie beschreibt, welche irritierenden Reaktionen ihr Lesbisch-Sein selbst in Menschen hervorruft, die sich für tolerant halten?Jede Art der Problematisierung markiert es irgendwie als Problem. Der Essay ist gut gewesen. Das Thema wurde aber schon wieder nicht inhaltlich wahrgenommen. Der Text war mit einem Bild von uns versehen, mein Name wurde explizit genannt, das war kein Text mehr, der ein gesellschaftliches Problem anprangert, sondern das war ein fucking Coming-Out. Das ist doch ein fragwürdiger Vorgang.
Sie haben Ihre Lebenspartnerin zwar nicht geheiratet, wie sie es in dem Artikel angekündigt hat, haben aber immerhin zwei Hunde. Ist Ihr Leben ruhiger geworden?Das war schon immer recht stet.
Sie haben es als eines der größten Missverständnisse um „Axolotl Roadkill" empfunden, dass man Sie und Mifti als eins betrachtet hat. Haben Sie sich jetzt die Deutungshoheit zurückgeholt?Ein weiteres Missverstanden-Werden hätte ich nicht verkraftet, was diesen Stoff betrifft. Es geht sowieso bei dem, was mich irritiert und traurig gemacht hat an dem Skandal um „Axolotl Roadkill", sehr wenig um mich und immer um dieses Buch. Wo ich immer dachte, fuck, das ist wirklich ein selbstproduzierter Stoff, der nicht als das wahrgenommen wird, was er sein soll. Wäre ich mit der Rezeption zufrieden gewesen, hätte ich das Buch höchstbietend versteigert.
Wie war das, sich nach all den Jahren diesem Buch noch einmal zuzuwenden?Ich habe das als unabhängiges Projekt betrachtet, auch wenn es Spaß gemacht hat, die Figuren gut genug zu kennen, um sie woanders hintragen zu können. Ich war schon fast genervt von denen und war deshalb gezwungen, mir zu überlegen: Was finde ich noch immer fundamental interessant an denen?
Sie sagen immer wieder, dass Sie im Film Ihr Medium gefunden haben. Was gefällt Ihnen daran so gut?Es ist sehr angenehm, zu wissen, dass man nicht allein verantwortlich ist für das, was man schreibt, sondern es kommen Leute hinzu, die es zu etwas völlig anderem werden lassen. Ich glaube, es gibt genügend Menschen, die gerade deshalb keine Filme machen könnten, aus Angst vor diesem Kontrollverlust. Für mich bedingt aber gerade der meine Arbeit, das Gefühl habe ich immer mehr.
Sie brauchen die anderen für Ihr Arbeiten?Sobald ich etwas schreibe, kalkuliere ich mit ein, dass es zu etwas anderem gemacht wird. Ich merke immer mehr, dass mir das Schreiben nur Spaß macht, wenn ich weiß, das geht noch mal durch wen anderes durch, da kommt was Irrationales von einer anderen Person dazu. Ich nenne das immer das Eigenleben, das ein Kunstwerk entwickelt. Das geht nur, wenn viele Leute involviert sind und man ein Stück weit seine Ideen verrät, um den anderen gerecht zu werden. Das gefällt mir gut.
Der Film wird aber natürlich mit Ihrem Namen verbunden werden, mit dem Buch, auf dem er basiert. Hatten Sie im Vorfeld Angst, dass die ganze Debatte um „Axolotl Roadkill" noch mal hochkocht? Nach dem Motto: Ah, das war doch die mit dem Plagiat?Mich überrascht bis heute, wie unverhältnismäßig lässig ich mit diesem Skandal damals umgegangen bin, weil ich ja sehr viel jünger war. Das erstaunt mich wirklich. Und was ich manchmal merke, ist, dass ich weniger Angst habe, dass noch mal etwas aufgekocht wird, als dass ich nervös werde in kurzen Momenten.
Was sind das für Momente?Klassischer Fall: Heute morgen, wenn ich weiß, das wird ein Interviewtag, und ich treffe die erste Interviewerin, die zweite; da gibt es diese Momente, in denen ich das Gefühl habe, etwas nicht gerecht geworden zu sein, etwas falsch oder diffus beantwortet zu haben. Dann setzt eine unfassbare Unruhe ein, weil ich einfach davon ausgehe, nicht gemocht oder überführt zu werden. Ich glaube, das ist eine stilechte Traumatisierung, die ab und zu aufbricht. Das sind so kurze Schockmomente, in denen etwas getriggert wird, obwohl man denkt, man hätte das alles reflektiert und überwunden und würde dem nicht mehr zum Opfer fallen.
"Erfolg ist nichts, was glücklich macht"
Bevor es noch mehr Missverständnisse gibt: Man fragt sich bei „Axolotl Overkill" unweigerlich, wie viel Carl Hegemann in Miftis egozentrischem Vater steckt.Ja, das ist eine Gemeinheit! Wirklich! Das bereitet mir schlaflose Nächte, weil ich das ihm gegenüber so unfair finde.
Dann holen Sie doch mal zur Ehrrettung aus: Wie ist Carl Hegemann als Vater?Das Gegenteil des Vaters aus dem Film. Er hat einen ähnlichen Bademantel, aber das war's auch schon.
Ist er liebevoll, fürsorglich?Das ist er auf jeden Fall.
Berät er Sie bei Ihrer Arbeit? Sagt er schon mal: Helene, so wird das nichts?Das hat er glücklicherweise noch nie gesagt. Wir machen zu unterschiedliche Sachen, als dass man sich gegenseitig ernsthaft beraten könnte. Aber natürlich ist es toll, jemanden als Vater zu haben, dem man bedingungslos vertrauen kann. Der einem schon in frühem Alter sagt: Kritik ist nur dann toll, wenn sie durchwachsen ist. Lob und Erfolg ist nicht das, worauf es ankommt. Es ist immer ganz gut, auch gehasst zu werden für das, was man gemacht hat. Sonst wird's langweilig.
Was bedeutet für Sie Erfolg?Es ist jedenfalls nichts, was glücklich macht.
Auch gut. Ich meinte aber: Was macht Erfolg aus, wenn es die guten Rezensionen nicht sind?Ich glaube, Erfolg bedeutet etwas, das aufregt, aber auch gefällt. Dass der Film etwas auslöst in den Menschen ist für mich wünschenswerter als etwas Abnickbares, was bestimmte Sachen bedient und allgemeingültig ist. Und Erfolg ist ja schon mal überhaupt, im Kino zu laufen, das ist doch fantastisch! Ich bin von vielleicht drei Programmkinos ausgegangen, jetzt läuft der Film in ganz Deutschland.
Promotet wird „Axolotl Overkill" von Constantin Film, der gleiche Verleih, der Blockbuster wie „Fack Ju Göhte" im Programm hat. Hat dieser große Rahmen Einfluss auf Ihre Arbeit gehabt?Wir haben mit einem sehr großen Team gearbeitet. Wenn da vierzig Leute am Set sind, geht eine Maschinerie los, die kriegst du schlecht durchbrochen. Jede Art von Sich-freischaufeln-Wollen von einem Tagesablauf führt dazu, dass irgendjemand nicht pünktlich zu Mittag bekommt. Und dass jeder genug zu essen hat und sich nicht überarbeitet, ist mir definitiv wichtiger als meine künstlerische Vision.
Wie kann man an so einem Set Spontaneität erhalten?Wenn man faul wird, ist das sehr schwer. Aber wir hatten großes Glück mit dem Kameramann, dem Belgier Manuel Dacosse, der auf dem Sundance Festival auch für seine Arbeit ausgezeichnet wurde. Der brauchte für jeden Lichtaufbau nur zehn Minuten - normalerweise dauert es schon mal zwei Stunden, eine dreisekündige Szene vernünftig auszuleuchten. Manuel hat sich vollkommen von seinem Konzept verabschiedet und lief oft schweißüberströmt mit der Handkamera einfach weiter, weil ich sagte: „Noch kein Cut, spielt weiter." Der hat eine Spontaneität da rein gebracht, die wir mit jemanden, der weniger flexibel gewesen wäre, nie zustande gebracht hätten.
Und wie war der Umgang mit Ihnen? Der Welpenschutz dürfte weg gewesen sein.Ich kann Ihnen versichern, den gab es nicht im Geringsten. Es gab in meinem Arbeitszusammenhang im Übrigen nie so etwas wie Welpenschutz. Was impliziert das? Dass alle über zwanzig fertiggemacht werden für das, was sie tun? Wenn man die Freiheit hat, sich die Leute auszusuchen, mit denen man arbeitet, umgibt man sich mit denen, mit denen man am weitesten vorankommt. Jede Form von Abmilderung ist da Quatsch.
Wie sind Sie mit den Erwartungen an den Film umgegangen? Sind Sie cooler geworden, weil Sie den Shitstorm schon einmal durch haben?Ja, natürlich. Für die Freiheit, mit der ich heute arbeite, war dieser Shitstorm das Beste. Weil ich nicht im Geringsten etwas von der öffentlichen Wahrnehmung abhängig mache. Wirklich. Und das ist eine extrem luxuriöse Position. Das können sehr wenige Leute von sich behaupten, die so euphorisch an die Öffentlichkeit gehievt wurden wie ich, die dann aber nicht geschlachtet wurden. Das ist natürlich reines Glück.
Sie haben einen kurzen Cameo-Auftritt in dem Film. Als Mifti morgens in die Küche kommt, sitzen Sie da umgeben von Ihrem Team und drehen einen Film, in dem einer mit einem gefrorenen Weißbrot erschlagen wird. Die Arbeit an dem Film hat einen Riesenspaß gemacht, oder?Spaß, das klingt so degradierend, als seien wir da alle hippiesk durch die Gegend gerannt. Das war schon anstrengend.
Dann vielleicht: Freude?Ja, und zwar an der Konzentration, die alle aufbringen durften. Wenn ich eine Stärke von mir nennen darf, dann die: Ich versuche, ein Gefühl dafür zu entwickeln, was die Leute woanders nicht dürfen und lasse sie genau das dann machen, nicht weil es Spaß macht, sondern weil es einen stimuliert, weil es so intensiv ist.
Als Sie mit dreizehn nach Berlin zu ihrem Vater zogen, haben Sie viel Zeit an der Volksbühne verbracht. Haben Sie sich diesen Umgang mit Schauspielern dort abgeschaut?Natürlich lernt man da was über - ich nenne es mal: soziale Kunstformen. Am meisten merkt man das vielleicht daran: Das, was ich an Axolotl jetzt unbestreitbar toll finde, sind die Schauspieler. Und wie die sich das zu eigen machen, wie sie sich spielerisch zu den Figuren verhalten, statt niederzuknien vor der Rolle: Ja, das lernt man an der Volksbühne.
Sie haben mal gesagt: Bevor Sie nach Berlin kamen, hätten Sie wie in einem Winterschlaf gelebt. Was war das für ein Erweckungserlebnis da an der Volksbühne?Es gab plötzlich einen Ort, an dem ich mich bedingungslos wohlgefühlt habe. Und nicht, weil ich es dort so gemütlich hatte oder weil mich da alle gemocht hätten, im Gegenteil, vor mir sind immer alle schreiend weggerannt, weil ich wieder nur so ein Teeniegroupie war, von denen gab es da viele zu der Zeit. Aber was man da erleben konnte, wenn man sich darauf eingelassen hat - und ich rede jetzt explizit von den Stücken, nicht von irgendeinem wilden Drumherum -, war einfach unfassbar. Was für eine künstlerische und intellektuelle Freiheit! Wie sich da Leute verausgabt haben!
Gibt es ein Stück, an dem Sie das festmachen können?Was für mich so war wie für andere Teenies vielleicht ein Robbie Williams-Konzert, war „L'affaire Martin!" von René Pollesch, mit Sophie Rois, Martin Wuttke, Christine Groß, Caroline Peters und Volker Spengler. Da saß ich drin und - jetzt werde ich so übereuphorisch, aber ich bin es immer noch, wenn ich daran denke - konnte nicht fassen, dass es sowas gibt. Ich habe natürlich kein Wort verstanden, aber mir wurde klar: Es gibt noch was anderes auf der Welt als schlecht gelaunte Mathelehrer.
Was ist für Sie bis heute davon geblieben?Das Theater in der Volksbühne ist nicht im Geringsten vergleichbar mit dem Theater, das irgendwo sonst stattfindet. Umso tragischer ist ja diese völlig zurecht so bezeichnete feindliche Übernahme. Dieser Ort wird jetzt zu etwas, was es schon tausendmal auf der Welt gibt. Das ist an sich schrecklich ... Wie war die Frage noch mal?
Das weiß ich auch nicht mehr. Aber ich habe noch eine andere: Mifti trägt im Film ein T-Shirt, bedruckt mit einem Wort in kyrillischen Buchstaben. Was bedeutet es?Da steht Nadryw drauf. Das ist ein unübersetzbares Wort. Dostojewski hat das viel verwendet. Es beschreibt zum Beispiel diesen Moment, in dem man sich einen Pickel ausquetscht und die Haut einreißt.
Sie meinen eine schräge Art von Befriedigung?Eher: Schmerzekstase. Der Moment, in dem etwas aufreißt, vielleicht auch etwas Katastrophales passiert. Der Übergang von einem Zustand in den anderen. Eigentlich der Grundzustand eines Teenagers, oder? Aber es hat schon einen Grund, warum man das nicht übersetzen kann. Ich könnte wahrscheinlich noch zwanzig Minuten weiterreden, ohne auf den Punkt zu kommen.
Verraten Sie mir zum Schluss noch: In einer Szene hören Mifti und Ihre Freundin Ophelia dieses großartige brasilianische Lied im Auto. Es ist so wahnsinnig melancholisch, herzzerreißend. Wo haben Sie das ausgegraben?Ich war mal in Brasilien auf einer Lesetour. Da saßen immer so ungefähr fünf Leute in den Lesungen. Wir haben dann in Búzios haltgemacht, einem von Brigitte Bardot entdeckten Örtchen an der Küste. Wir haben dort in einem riesigen Clubhotel übernachtet, in dem wir die einzigen Gäste waren, weil es außerhalb der Saison war. Nachts saßen wir an der Hotelbar und da lief dieses Lied. Die Kellnerin hat es immer gespielt, sie war mit dem Leadsänger der Band zusammen. Es hatte zu diesem Zeitpunkt vielleicht 500 Klicks auf Youtube und hat deshalb nicht 30.000 Euro gekostet, wie das ein Stones-Song schon mal tut. Das sind so Glücksgriffe.
„Ich brauche den Kontrollverlust" "Erfolg ist nichts, was glücklich macht"
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