Hört man Jugendliche untereinander reden, fallen öfter auch mal Sprüche wie „Ey, du Spacko, bist du behindert, oder was?" Respektlos? Behindertenfeindlich? Nicht unbedingt sagt Nora Sties. Die Sprachwissenschaftlerin beschäftigt sich mit Schimpfwörtern und Schubladendenken in der Jugendsprache und erzählt im Interview, wie sie wann gemeint sind.
Frau Sties, bei Jugendlichen ist das Wetter schwul, die Klassenarbeit behindert und der Freund ein Spasti, obwohl er nicht behindert ist. Können Sie das erklären?Schimpfwörter eignen sich zum einen, um andere zu beleidigen. Gleichzeitig haben sie die paradoxe Funktion den Gruppenzusammenhalt zu stärken. Nicht jeder Begriff, den Jugendliche untereinander benutzen, ist eine Beschimpfung. Das hängt sehr stark davon ab, welches Verhältnis sie untereinander haben. Gerade bei Spasti: Die meisten Jugendlichen haben keine Ahnung, was Spastiker wörtlich meint. Bei einer Umfrage unter Schülern gaben knapp 70 Prozent an, dass Spasti einfach ein Schimpfwort sei. Genauso wie das Wort behindert universell zur Abwertung sämtlicher Sachverhalte dienen kann. Dass es sich bei Spasti um eine Behinderungsform handelt, war gerade mal 20 Prozent klar. Von Bewegungsstörungen der Muskulatur wusste kaum einer. Übrigens ist dieser Wortgebrauch nicht auf Jugendliche begrenzt; er findet sich in allen Altersklassen.
Wenn es ihre Absicht ist, jemanden zu kränken, dann wissen sie das genau. Aber Menschen mit Behinderung sind in der Regel gar nicht die Angesprochenen. Eine gewisse Respektlosigkeit vor Normen zeichnet Jugendsprache aus. Und Tabubrüche sind immer äußerst wirkungsvoll, um eine Äußerung zu verstärken. Was respektlos klingen mag, ist ein spielerischer Umgang mit Sprache, geheimen Codes und der Stärkung eines Solidaritätsgefühls. Da kann ich nichts Schlimmes bei finden. Sprache dient hier als Mittel, um sich von Erwachsenen, aber auch anderen spezifischen Gruppen abzugrenzen: „Wer bin ich?", „Wer sind die anderen?" - diese Abgrenzungsmechanismen werden schon sehr früh in uns angelegt, das gehört zu unserer Identitätsbildung. Dabei stecken wir andere Menschen in Kategorien und Minderheiten zählen zu den typischen Personenkategorien. Problematisch wird es, wenn Menschen nicht wegen persönlicher Erfahrungen, sondern aufgrund einer kategoriellen Eigenschaft negativ bewertet werden und darauf eine negative Behandlung folgt - das ist Diskriminierung!
Schwer zu sagen, da sie keine homogene Gruppen bilden. Jugendliche mit Beeinträchtigungen haben auch weniger freiwillige Kontaktmöglichkeiten und treffen sich meist unter bestimmten Umständen wie Förderschulen oder Einrichtungen. In unserer gemeinsamen Rollstuhlsportgruppe sagen die Kids auch schon mal Behindi oder Spasti, um sie von den Fußis abzugrenzen. Das ist keine Kränkung, im Gegenteil. Je enger eine Beziehung ist, umso eher kann man potenziell gefährliche Wörter nutzen, um sie in ein Gemeinschaft stärkendes Gefühl umzukehren. Es bedeutet, dass man sich so gut kennt, dass man den Code versteht und zusammengehört. Das ist bei Jugendlichen mit oder ohne Behinderung der Fall.
Die Jugendlichen kann man dafür nicht verantwortlich machen, sondern nur zur Reflektion anregen. Sachverhalte, die als negativ betrachten werden, dienen mitunter als Spender für Schimpfwörter, das ist ein natürlicher Sprachwandelprozess.
Wird jemand als Penner bezeichnet, ist damit nicht gemeint, dass derjenige obdachlos ist; das Bild des verwahrlosten, asozialen Obdachlosen bleibt trotzdem Teil der Bedeutung. Wird behindert stetig als Schimpfwort benutzt, kann diese negative Komponente in der ursprünglichen Bedeutung in Bezug auf Personengruppen verstärkt werden.
Sind Schimpfwörter dieser Art neu?
Das ist ein uraltes Phänomen. Schon im alten Testament wird an manchen Textstellen eine Behinderung als göttliche Bestrafung beschrieben, an anderen wird ihnen eine kulturelle und gesellschaftliche Minderwertigkeit zugeschrieben. Besessenheit wurde im Mittelalter als metaphorische Erklärung für Epilepsie oder geistige Behinderungen benutzt. Rund um Krankheit und Behinderungen sind sprachliche Bilder fest in unseren Sprachmustern verankert. Auch heute nutzen Medien Begriffe, um ein bestimmtes Bild zu erzeugen wie „Es ist ein Beinbruch, aber noch keine Querschnittslähmung", was bedeutet, dass eine Querschnittslähmung das Ende von Allem ist.
Die meisten Kinderbücher zum Thema richten sich nicht an Kinder mit Behinderungen. Sie sollen nichtbehinderten Kindern erklären, was Behinderung ist. Oft sind die Texte nicht aus der Perspektive des Kindes mit Behinderung erzählt, sondern durch andere. Die Botschaft lautet: Dieser Mensch mit Behinderung ist anders, aber er gehört trotzdem dazu, sei lieb zu ihm. Anerkennung erstreiten sich die Figuren dann oft durch besondere Leistungen, sodass ihre Defizite nicht mehr im Vordergrund stehen. Vieles in diesem Bereich ist so langweilig und stereotyp im negativen Sinne, dass es mich gruselt. Insbesondere wenn Bücher für Vorschulkinder medizinische Erklärungen enthalten - da beginnt bereits die Pathologisierung behinderter Menschen.
Ja, die Werke von Autor Franz Huainigg und der Künstlerin Verena Ballhaus. In ihnen kann man Inklusion sehen und erleben.
Was wünschen Sie sich für Kinderbücher über Behinderung?
Bücher, in denen die Gefühlswelt der behinderten Figuren stärker in den Vordergrund gestellt wird, ihre Träume, Ideen, ihre individuelle Persönlichkeit. Dass wir auch in der Kinderliteratur ein Umdenken erleben. Denn im Gegensatz zu der Flüchtigkeit und Intimität von Jugendsprache ist literarische Sprache Teil des öffentlichen Diskurses. Hier kann man sprachliche Sensibilität und nichtdiskriminierendes Erzählen erwarten.
Sprachwissenschaftlerin Nora Sties, 29, sind nicht nur Worte wichtig, sondern auch Taten: Aktiv setzt sie sich gegen Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung ein, engagiert sich ehrenamtlich als Trainierin der Rollikids und ist Mitinitiatorin des Projekts "Die Schule rollt", das mit dem großen Stern des Sports ausgezeichnet wurde. Nora Sties ist querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl.