Andrea Corinna Schöne

freie Journalistin, Speakerin, Moderatorin, Autorin, Ingolstadt

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Wie inklusiv war der Evangelische Kirchentag wirklich? - Versuch einer Bilanz

Der Evangelische Kirchentag soll eine der größten inklusiven Großveranstaltungen nach den Paralympics gewesen sein. Wie sieht die Realität aus? Die Bilanz einer Journalistin mit Behinderung.

Am ersten Tag wollte ich meinen Presseausweis abholen und traf schon auf die ersten Hürden im Messezentrum Berlin. Der Aufzug zum Pressezentrum war nur durch einen kleinen Nebenraum mit einer sehr schweren Türe erreichbar. Angekommen im Pressezentrum waren die Tische im Außenbereich auch nicht für Rollstuhlfahrer angepasst.

Inklusiver Eröffnungsgottesdienst am Brandenburger Tor

Der Eröffnungsgottesdienst am Brandenburger Tor fand mit Gebärdensprachdolmetschern und einer Predigt in Leichter Sprache statt. Auch die Lieder waren in Leichter Sprache, leider aber nicht alle Teile der Predigt. Leider fand ich keinen Pressebereich, da nach Aussage von Ordnern die Presse an diesem Gottesdienst kein großes Interesse hatte. Später kamen doch noch einige Fotografen und ein Kameramann dazu.

Zentrum Barrierefrei: Hier stand Inklusion im Mittelpunkt

In der Messehalle 5 ging es um Barrierefreiheit und Inklusion. Hier gab es einen Infopoint, wo sich Menschen mit Behinderung über ihre Belange auf dem Kirchentag informieren konnten. Für alle Kirchentagsteilnehmer gab es einen Ruhebereich zum Ausruhen. Dabei waren auch mehrere Pflegebetten vorhanden.

In der Halle befand sich noch eine große Bühne für Veranstaltungen, eine Kunstaustellung und eine Ausstellung über die Ausbildung von Blindenhunden. Im Cafè kam ich mit Roland Krusche, dem Gehörlosenpfarrer in Berlin, der auch in der Koordination für die Barrierefreiheit mitarbeitete, über die Bestrebung für einen inklusiven Kirchentag ins Gespräch. „Eine solche Sensibilität für Belange behinderter Menschen kenne ich sonst kaum. Es gehört hier einfach zum Konzept. Das fällt mir auf, wenn wir vorbereiten. Die wissen selbst schon ganz viel, man muss sie nicht erst hintragen zu dem Thema, sondern sie wollen es selber", erzählte Herr Krusche begeistert. Die Grundeinstellung der Organisatoren sei sehr offen für die Belange von behinderten Kirchentagsbesuchern, ganz im Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Bereichen. „Wir sagen nicht, wir machen alles perfekt. Aber wir sagen, wir gehen in die Richtung. Bei so einer riesen Veranstaltung fehlt dann immer noch einiges. Aber ich finde die Bewegungsrichtung ist schon mal klar. Die sehe ich bei vielen anderen nicht."

Am Freitagabend gab es auch ein inklusives Abendmahl in Berlin. Bei der Organisation des Gottesdienstes gab es aber zunächst einige Hürden: „Wir haben eine Kirche dafür gesucht, die möglichst für Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen zugänglich ist. Das ist gar nicht so einfach. Die Kirche muss eine gute Beleuchtung haben, muss eine Induktionsschleife haben, sie muss eine Rampe und eine behindertengerechte Toilette haben und groß genug sein. Wir rechnen mit 500 bis 600 Teilnehmer. Und da haben wir am Ende nur drei Kirchen gefunden, die wirklich diesen Kriterien entsprachen. Zwei davon hatten schon eine andere Veranstaltung", betonte Krusche. Allerdings sei die Kirche mit der U-Bahn nicht barrierefrei zugänglich.

Im Zentrum Barrierefrei gab es insgesamt ein breites Angebot zur Inklusion. In einer Gesprächsrunde beispielsweise entwickelten Kirchentagsteilnehmer ein Konzept, wie man möglichst schnell und effektiv das Stadtbild inklusiver gestalten könnte.

Assistenz für mobilitätseingeschränkte Menschen durch die Johanniter

Rehm Merten war als Koordinator für das Team der Johanniterjugend im Einsatz. Ein Hauptaufgabenfeld war laut Merten neben einem Begleitdienst noch der Shuttledienst direkt vor den Toren zum Zentrum Barrierefrei. „Wenn die Leute einen Fahrdienstwunsch haben, dann kommen sie zum Counter. Da wird der Antrag entgegengenommen und dann begleiten wir sie auch zur Fahrdienststelle hin und wenn sie möchten, begleiten wir sie auch auf der Reise mit dem Fahrdienst zusammen", erklärte Mertens den Ablauf. Der Counter war von 8 Uhr bis 22 Uhr besetzt, man konnte aber auch Voranmeldungen für Fahrdienste machen. Laut Merten kamen aber auch viele Spontananfragen, die dann auch gleich weitervermittelt wurden.

Dienste für Menschen mit Lernschwierigkeiten

Für Menschen mit Lernschwierigkeiten gab es Info-Material am Infopoint im Zentrum Barrierefrei. Vor dem Eröffnungsgottesdienst am Brandenburger Tor erklärte etwas scherzhaft Michael Hofmann, der in der Arbeitsgruppe von Leichte Sprache mitgearbeitet hat, was man bei Leichter Sprache beachten muss: „In jedem Satz nur ein Gedanke. Keine Fremdwörter. Nach Möglichkeit keine Verneinungen. Es ist wie nach einer langen Party: Man ist unglaublich müde und dann soll man noch eine Erklärung verstehen."

Im Zentrum Barrierefrei war das Morgengebet laut Krusche immer in Leichter Sprache. Die Texte mussten immer von Menschen mit Lernschwierigkeiten gegengelesen werden, damit alles verständlich sei. Laut Krusche fragten Kirchentagsteilnehmer mit Behinderung nicht am Info-Point direkt nach.

Dienste für gehörlose Menschen

Zum ersten Mal erlebte ich einen Teil der Gehörlosenkultur: einen Gebärdensprachchor. Dieser unterscheidet sich von einem herkömmlichen Chor gar nicht so sehr. Gesungen wird mit den Händen, was genauso eindrucksvoll ist.

Michael Hofmann, Leiter des Projektteams Zentrum Barrierefrei erklärte die Auswahl der Gebärdensprachdolmetscher für die Veranstaltungen: „Wir brauchen bei jedem Kirchentag ungefähr 25 Dolmetscher, um geplant etwa 60 Veranstaltungen zu dolmetschen. Dann haben wir nochmals Veranstaltungen, bei denen sich die Teilnehmenden melden und die Dolmetscher buchen können. Hier in Berlin war das so, dass viele Dolmetscher gebeten wurden sind, ein Video einzureichen, das Gehörlose sich dann angeschaut und geprüft haben, ob sie es gut verstehen. Es gibt eben tatsächlich auch bei der Gebärdensprache Dialekte und von daher war das wichtig, da auch noch mal eine Rückmeldung von Gehörlosen selbst zu haben."

Eine vage Vorstellung wie sich der Kirchentag für blinde Menschen anfühlte

Für blinde Menschen fand ich keine offensichtlichen Hilfen. Daher informierte ich mich bei der Christoffel-Blindenmission (CBM), die einen Messestand in Berlin hatte. Ich versuchte mich an dem Parcours mit einer Brille, die zeigt, wie es sich anfühlt mit Grauer Star zu leben und wie der Alltag damit auf der Straße aussehen könnte. Ich stieß immer wieder an Gegenstände an und tastete mich vorsichtig nach vorne. Das war auch für mich eine völlig neue Erfahrung.

Jan-Thilo Klimisch, der politische Sprecher von CBM, gab mir auch seine Eindrücke über die Barrierefreiheit für blinde Menschen weiter. Diese sind nur eine Einschätzung, da er selbst sehend ist: „Ein Kollege von mir ist blind. Er kann sich in Berlin an manchen Orten schon recht gut auch selbstständig bewegen, aber die Fahrt zur Messe und sich auf der Messe selbstständig zu bewegen, das würde ohne Assistenz nicht möglich sein. Wenn ich mich hier umschaue, sehe ich nicht, dass das mit Leitsystemen taktil für den Blindenstock ist."

Laut Gehörlosenpfarrer Krusche haben blinde Menschen am Info-Schalter auch keine Fragen gestellt. Menschen mit Sehbehinderung waren die kleinste Gruppe von Menschen mit Behinderung auf dem Kirchentag, dennoch muss sich hier für die folgenden Kirchentage etwas ändern.

Meine Bilanz

Bei einem genaueren Blick ins Programmheft fand ich frustriert heraus, dass viele Veranstaltungen im Zentrum Jugend nicht barrierefrei zugänglich waren. Auch eine Lesung, bei der ich aus einem Essay über mein Leben mit Behinderung vorlas, war nicht barrierefrei zugänglich. Bei insgesamt 2143 Teilnehmenden mit Behinderung ist das mehr als bedauerlich.

Bedenklich fand ich besonders den Umgang der Presse mit dem Thema „Behinderung". Nach einer Pressekonferenz fragte mich ein Journalist einer namhaften Tageszeitung, ob sein Team über meine Teilnahme als Journalistin mit Behinderung am Kirchentag schreiben könnte. Als ich antwortete, dass ich darüber lieber in seinem Medium selbst schreiben würde, erhielt ich später keine Rückmeldung mehr. Laut den Johannitern war ich die einzige Journalistin, die um Informationen fragte. So ernsthaft kann das Interesse der Presse zur Teilnahme von Menschen mit Behinderung am Kirchentag dann wohl nicht gewesen sein.

Manche Ordner reagierten falsch, wiesen mir wegen meiner Behinderung einfach einen Platz zu, während andere Journalisten ohne Behinderung sie vor der Bühne nicht störten. Oftmals herrschte Gedankenlosigkeit, wenn beispielsweise einWickeltisch in die Behindertentoilette gestellt wird.

Oftmals bemühten sie die Ehrenamtlichen aber auch sehr und scheiterten an der schlechten Organisation vor Ort. Für die Fahrt nach Wittenberg nutzte ich das einzige Mal den Shuttle-Service des Kirchentags. In Wittenberg wurden alle Fahrzeuge der Johanniter bis zu 20 Kilometer um Wittenberg herumgeschleust, da es keine ausgewiesenen Wege gab. Auch die Polizisten konnten uns nicht weiterhelfen. Es ist eine Zumutung, ausgerechnet behinderte und alte Menschen, die den Shuttle-Dienst nutzten, so zu behandeln. Alles in allem würde ich aber trotzdem sagen, dass das Format „Evangelischer Kirchentag" auf einem guten Weg ist, eine wirklich inklusive Veranstaltung zu werden.

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