Anfang 2017 wird Gulbahar Haitiwaji im chinesischen Xinjiang festgenommen, inhaftiert und anschließend in ein Internierungslager für Uiguren gesperrt. All das geschieht zehn Jahre, nachdem sie mit ihrer Familie nach Frankreich ausgewandert ist. Unter falschem Vorwand bestellt ihr ehemaliger Arbeitgeber sie in ihre Heimat. Es gehe um wichtige Dokumente für ihren Vorruhestand, erzählt man ihr, eine Angelegenheit, die sich nur persönlich klären ließe. Haitiwaji sagt über sich selbst, nie politisch aktiv gewesen zu sein, sich nie auffällig verhalten zu haben. "Ich habe einen solchen Angriff deshalb nicht für möglich gehalten", berichtet sie im Gespräch mit ntv.de. Und so bricht sie nach Xinjiang auf. Sie will die Formalien schnell klären, anschließend einige Familienmitglieder besuchen und zwei Wochen später die Rückreise nach Frankreich antreten. Drei Jahre soll es dauern, bis sie nach Hause zurückkehrt.
Als sie in ihrer ehemaligen Arbeitsstätte eintrifft, sich die Tür des Büros schließt und sie die beiden Zivilbeamten hinter sich bemerkt, dämmert ihr, dass sie in eine Falle gelaufen ist. Man nimmt sie auf das örtliche Polizeirevier mit und steckt sie anschließend in ein Untersuchungsgefängnis. Die Tage vergehen, der Flieger Richtung Frankreich hebt ohne sie ab.
Gulbahar Haitiwaji verschwindet von einem Tag auf den anderen, weder Familie noch Freunde wissen, wo sie steckt. "Ich kann nicht sagen, ob es 30 Minuten gedauert hat, oder vier Stunden", beschreibt Haitiwaji das erste zähe Verhör, auf das unzählige weitere folgen werden. Ihr wird ein Foto vorgehalten, das ihre Tochter bei einer Demonstration in Frankreich gegen die Unterdrückung der Uiguren zeigt. Der Vorwurf: Staatsgefährdung und Terrorismus.
Auf ihre Untersuchungshaft folgt eine quälende und gewaltvolle Odyssee durch das lebensfeindliche Lagersystem in Xinjiang - ein System, das die Autorin selbst als "kafkaesk und lächerlich" beschreibt und dessen Willkür bereits zu Beginn ihres Erfahrungsberichtes entlarvt wird. Denn warum macht sich ihre Tochter mit der Teilnahme an einer friedlichen Demonstration in Frankreich des Terrorismus schuldig? Und warum wird als Konsequenz die Mutter festgenommen?
Im Interview liefert Haitiwaji die ebenso einfache wie verstörende Antwort: Sowohl ihr Ehemann als auch ihre Tochter besitzen mittlerweile die französische Staatsbürgerschaft, die chinesischen Behörden "konnten sie also nicht so einfach verschwinden lassen". Haitiwaji selbst jedoch hat ihren chinesischen Pass behalten und ist somit ein wesentlich leichteres Angriffsziel. "Also haben sie mich geholt."
Während der Lagerhaft erlebt Gulbahar Haitiwaji, was laut Schätzungen von Human Rights Watch rund einer Million Uiguren in gut 1000 Umerziehungslagern in Xinjiang angetan wird. Sie verliert aufgrund von Mangelernährung stark an Gewicht, wird gefoltert und zwangssterilisiert. Immer wieder muss sie in erzwungenen Geständnissen ihre vermeintliche Schuld gestehen, einräumen, dass sie eine Terroristin sei. All dem begegnet sie mit einer beeindruckenden mentalen Stärke. Sie spielt die Inszenierung falscher Geständnisse mit, hält tief in ihrem Inneren jedoch an ihrer Wahrheit und somit ihrer Unschuld fest. Doch trotz aller Resilienz sind die schweren Folgen von psychischer Manipulation und Folter bis heute spürbar. "Ich leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung und kann oft nicht schlafen. Es fühlt sich an, als könne ich diese Erinnerungen nie hinter mir lassen", schildert Haitiwaji im Gespräch.
Dennoch nimmt sie es mit diesen Erinnerungen auf, kehrt nach ihrer Freilassung mit dem Schreiben ihres Buches "in die Zelle zurück" und durchlebt ihre Lagerhaft noch einmal, so Haitiwaji. Sie trotzt der Polizei, die ihr und ihrer Familie droht, sollte sie ihre Erlebnisse nicht unter Verschluss halten. Verfasst sie "Wie ich das chinesische Lager überlebt habe" zunächst noch anonym, wächst mit der Zeit zunehmend das Bedürfnis, das Erlebte unter ihrem Klarnamen zu veröffentlichen. "Mir wurde bewusst, dass sich nichts ändern würde, wenn ich mich weiterhin von der chinesischen Regierung einschüchtern ließe. Meine Geschichte durfte nicht zu einer weiteren unerzählten Geschichte werden", so die 56-Jährige.
"Der erste Bericht einer Uigurin", in der deutschen Übersetzung von Claudia Steinitz und Uta Rüenauver, ist ein aufwühlendes, packendes und unheimlich wichtiges Buch. Es wirft ein Schlaglicht auf die massiven Menschenrechtsverletzungen Chinas, auf die systematische Unterdrückung einer ganzen Bevölkerungsgruppe. "In Xinjiang findet ein Genozid statt", fasst Haitiwaji zusammen, woraufhin die chinesische Regierung mit weiteren Anschuldigungen reagiert. In einem offiziellen Statement bezeichnet die Regierung sie erneut als Terroristin und ihren Erfahrungsbericht als eine bloße Sammlung von Lügen.
Gulbahar Haitiwaji weiß, dass sie auch in Zukunft unter Chinas ideologischem Beschuss leben wird. Doch ihr Kampf für die Freiheit der Uiguren, für die internationale Anerkennung des Genozids in Xinjiang habe gerade erst begonnen: "Das ist bloß der Anfang", verkündet Haitiwaji, "ich werde den Kampf gegen China nie aufgeben".
Quelle: ntv.de
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