Seitdem vor einigen Jahren neue Debatten über den Osten, dessen Wut und über die Härten der Nachwendezeit begannen, ist immer wieder ein Phänomen zu beobachten: Einstige Aufbauhelfer erzählen, dass sich der Zorn mancher Leute gegen sie richte. Dass sie nach Jahrzehnten im Osten immer noch als "Wessis" gälten, gar beschimpft würden. Stimmt das? Wir haben vier Personen zum Gespräch eingeladen, die kurz nach 1990 in die damals neuen Länder kamen.
DIE ZEIT: Warum sind Sie nach dem in den Osten gegangen?
Astrid Baumann: Ich bin in aufgewachsen, das lag nahe der Grenze. Und ich habe mir schon vor 1989 oft gewünscht, endlich mal ungezwungen nach "drüben" zu fahren, einfach mal Guten Tag sagen zu können. Nach der Friedlichen Revolution wusste ich: Ich will diese Gegend nicht nur besuchen, ich will da arbeiten. Auch weil ich dachte, dass man etwas zum Aufbau beitragen kann. Ich war damals Richterin in Frankfurt am Main und bin nach Gera gegangen - erst nur für ein Jahr. Aber mir war schnell klar, dass ich in Thüringen bleiben will.
Thomas de Maizière: Auch mich hat diese Mischung aus Neugier und Gestaltungswille nach Ostdeutschland verschlagen. Wobei es bei uns noch eine Sondersituation gab: Wir waren eine geteilte Familie, mein Cousin Lothar de Maizière und dessen Eltern lebten in der DDR. Dann wurde Lothar nach der ersten und gleichzeitig letzten freien Wahl in der DDR, im März 1990, zum Ministerpräsidenten gewählt. Ich arbeitete als sein Berater, habe unter anderem den Einigungsvertrag mitverhandelt - auf DDR-Seite wohlgemerkt! Und nach dem 3. Oktober 1990 war mir klar: Ich möchte in Ostdeutschland bleiben. Westberlin erschien mir plötzlich unfassbar langweilig. So bin ich zunächst in Schwerin gelandet, wo ich Staatssekretär wurde.
Hans-Jürgen Merkle: Ich habe die Wiedervereinigung als riesengroße Chance begriffen. Bis dahin hatte ich als Verwaltungsbeamter gearbeitet, im hessischen Bad Nauheim. Und ich fand es reizvoll, eine Kommune einmal ganz von Neuem aufzubauen. Endlich die Gleise zu legen, statt immer nur die Weichen zu bedienen. So etwas kannst du nur im Osten machen, habe ich gedacht. Eher zufällig habe ich erfahren, dass Heringsdorf auf einen Bürgermeister suchte. Ich wollte es probieren. Und wurde es tatsächlich. Das war mein großes Glück. Die Insel ist meine Heimat geworden.
Susanne Wiedemeyer: Ich erinnere mich, dass es Anfang der Neunziger eine Juristenschwemme in Westdeutschland gab. Ich war gerade fertig mit dem Jurastudium, da bot es sich an, in den Osten zu gehen. Als ich das erste Mal da war, in , da hat es mich schon geschüttelt: die ganzen Trabis, der Braunkohle-Gestank. Aber interessanterweise fühlte ich mich sehr schnell heimisch. Viele Leute denken inzwischen auch, dass ich von hier komme.
Baumann: Das ist mit das größte Kompliment, was man bekommen kann! Wenn ich jemanden kennengelernt habe und die Person nach einiger Zeit überrascht festgestellt hat: "Was? Du kommst aus dem Westen? Das hätte ich nie gedacht!"
ZEIT: Das Kompliment besteht also darin, als Westdeutscher nicht so aufzufallen?
Wiedemeyer: Gewissermaßen ja. Allein schon das Wort "Wessi" hat ja einen negativen Klang. Eine neutrale Bezeichnung ist es jedenfalls nicht. Das liegt natürlich daran, dass Westdeutsche hier mit vielen schrecklichen Geschichten verbunden werden. Da gab es den Wessi, der Anfang der Neunziger den Onkel beim Autokauf über den Tisch gezogen hat. Oder den Wessi, der einem überteuerte und unnütze Versicherungen angedreht hat. Die Geschichten vom bösen Wessi werden bis heute weitererzählt. Das führt dazu, dass sich dieses negative Bild verstetigt.
ZEIT: Verstehen Sie das, oder ärgert Sie das?
Wiedemeyer: Es kommt darauf an. Manches ärgert mich schon. Schauen Sie sich an, was die Linkspartei in meinem Heimatbundesland Sachsen-Anhalt voriges Jahr im Wahlkampf plakatiert hat: "Nehmt den Wessis das Kommando!" Das hat mich sehr getroffen.