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Herr Göttlich, warten Sie gerne?
Durch mein Projekt habe ich gelernt, beim Warten auf andere Dinge zu achten. Und wenn man während des Wartens mit anderen Sachen beschäftigt ist, dann wartet man im strengen Sinne gar nicht mehr. Das heißt, das Projekt hat bei mir dazu geführt, dass ich weniger warte. Insofern bin ich dadurch vielleicht auch etwas geduldiger und relaxter in manchen Situationen geworden.
Für mich ist spannend, wie Warteräume gestaltet, organisiert und arrangiert sind. Es gibt ja ganz unterschiedliche Plätze zum Warten, angefangen beim Wartezimmer vom Arzt über die Bushaltestelle bis hin zu Wartehallen am Flughafen. Es gibt aber auch viele Räume, die gar nicht direkt für das Warten vorgesehen sind. Zwischen den Warteräumen kann man Vergleiche anstellen: Welche Möglichkeiten des Wartens ergeben sich? Und natürlich ist auch das Verhalten der Leute interessant, wenn es noch andere Leute gibt, die warten.
Personen haben sehr unterschiedliche Ansprüche an Warteräume. Es gibt diejenigen, die zum Arzt kommen, sich ins Wartezimmer setzen und gar nichts tun, bis sie drankommen. Diejenigen lassen einfach nur ihre Gedanken schweifen und sind vielleicht auch ganz froh über ein paar Minuten Ruhe, weil sie einen hektischen Alltag haben. Für diejenigen ist es gut, wenn es in dem Raum ruhig ist. Andere möchten beschäftigt werden, Getränke oder etwas zum Lesen haben. Diese Wartenden möchten die Zeit verkürzt haben und sich nicht langweilen. Den perfekten Warteraum für jeden gibt es einfach nicht.
Geduld ist wohl nichts mit dem wir auf die Welt kommen. Bei uns in der westlichen Kultur ist es so, dass wir ein gewisses Lebensethos haben, was dem Warten widerspricht. Wir wollen unsere Zeit möglichst effizient nutzen. Warten ist oftmals leere Zeit, da kann man nichts Sinnvolles machen. Das Warten ist dadurch definiert, dass wir das, worauf wir warten, nicht selbst herbeiführen können. Diese Ohnmacht ist für uns eine Situation, mit der wir erst einmal umgehen müssen. Es ist also auch eine psychische Belastung, dass man nicht Herr der Situation ist.
Irgendwann habe ich gemerkt, dass das Thema gewissermaßen auf der Straße liegt. Und je mehr ich darüber nachgedacht und dazu gelesen habe, habe ich gemerkt, dass es noch nicht so viele Forschungen dazu gibt. Warten ist aber auch ein alltägliches Phänomen. Jeder muss irgendwann auf irgendwas warten. Wir müssen sogar jeden Tag warten. Es gibt auch die langen Wartephasen im Leben, im Beruf oder während der Partnerschaft. Es ist ein häufiges und wichtiges Phänomen. Ich habe das Gefühl, dass ich da als Soziologe noch etwas beitragen kann.
Ich habe mich stärker auf die Alltagssituation des Wartens fokussiert. Das sind die Situationen an der Bushaltestelle, beim Arzt im Wartezimmer, an Flughäfen. Ich habe zum einen mit Wartenden Interviews gemacht, ansonsten habe ich überwiegend Beobachtungen gesammelt. Ich habe die Wartesituation und die räumliche Ausstattung analysiert und untersucht, wie die Leute in diesem Raum miteinander interagieren. Ein weiterer wichtiger Punkt war, dass ich mich mit Leuten unterhalten habe, die ich als alltägliche Warteexperten bezeichnen würde, wie eine Assistentin beim Arzt. Sie haben jeden Tag mit Wartenden beruflich zu tun haben und daher viel praktische Erfahrung mit Wartenden und Warten. Mit ihnen habe ich auch Gespräche geführt, um von ihrem Wissensschatz profitieren zu können.
Die allgemeine Vorstellung ist, dass wir in unserer westlichen Kultur das Warten eher negativ bewerten, es auch vielleicht bis zu einem gewissen Grad verlernt haben. In anderen Kulturen, wie in Japan oder afrikanischen Ländern, können die Leute besser warten. Man findet aber auch bei uns viele, die sagen: Eigentlich ist es ganz angenehm, auch mal warten zu können, eine Ruhepause im Alltag zu haben. Das Warten ist in vielen Situationen auch eine Übergangsphase. Wenn man an die Situation beim Arzt denkt, da ist man vielleicht aus dem Büro gekommen, hat noch die beruflichen Dinge im Kopf und ist dann plötzlich beim Arzt, wo man über Privates, Intimes und die Gesundheit reden muss. Da ist eine Wartezeit auch für manche mal ganz gut. Diejenigen nutzen die zehn bis 15 Minuten um runterzukommen, abzuschalten und die beruflichen Dinge hinter sich zu lassen. Es gab auch Menschen am Flughafen, die mir erzählt haben, dass sie diese Übergangsphase zwischen Alltag und Urlaub auch genießen. Sie sagen: Jetzt lasse ich den Alltag hinter mir, kann ich mich auf den Urlaub freuen und die Vorfreude während der Wartezeit ausleben. Also ganz so eintönig, dass alle das Warten verabscheuen, ist es nicht.
Nehmen wir mal ein naheliegendes Beispiel: Ein Student fängt hier an der Universität an zu studieren. Er weiß allerdings noch nicht so genau, was er studieren möchte. Um einfach mal reinzuschnuppern, fängt er ein Studium an. Dann merkt er aber, dass das Fach vielleicht doch nichts für ihn ist. Deshalb schlägt er einen anderen Lebensweg ein und rückblickend auf die zwei Semester sagt er vielleicht, dass das für ihn eher eine Wartezeit war, bis er wusste, was er will. Ich glaube biografisch passiert das recht häufig, dass Menschen rückblickend sagen: Eigentlich habe ich dort auf etwas gewartet, ich wusste nur nicht genau worauf. Im Alltag wissen wir in der Regel schon, worauf wir warten. Wir takten den Alltag ja durch und planen ihn, sodass wir dann wissen, dass wir in diesem Moment auf eine Verabredung warten oder am Bankschalter stehen.
Wartenden muss der Eindruck vermittelt werden, dass es vorangeht. Ein schönes Beispiel ist die Schlange beim Flughafen. Bei einer Passkontrolle mit verschiedenen Schaltern gibt es zwei Möglichkeiten: für jeden Schalter eine Schlange wie beim Supermarkt oder nur eine Schlange für alle Schalter. An vielen amerikanischen Flughäfen wird eine große Schlange gemacht, das sogenannte American Queuing. Der Unterschied ist der, dass ständig Bewegung in der Schlange ist. Man hat als Wartender ständig das Gefühl, dass es voran geht. In einer Schlange vor einem einzelnen Schalter, habe ich das Gefühl, neben mir geht es ständig voran und ich stehe hier schon fünf Minuten. Wenn man den Wartenden den Eindruck vermittelt, sie kommen ihrem Ziel näher, ist das eine psychische Erleichterung.
Im Supermarkt hat man immer das Gefühl, sich an der falschen Kasse anzustellen. Wie kommt das zustande?
Forscher, die sich damit beschäftigt haben, sagen, dass es eine psychische Täuschung ist. Sie haben zum Beispiel drei Schlangen an denen Sie stehen können, wählen eine aus und vergleichen diese Schlange mit den anderen. Dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es zumindest an einer der beiden anderen Schlangen schneller gehen wird. Wir schauen aber eher auf die, wo es schneller geht, und haben deswegen oftmals den Eindruck, dass wir zu kurz kommen. In Wirklichkeit ist es aber vermutlich so, dass wir mal schneller und mal langsamer sind.
Man versucht bei Telefonwarteschleifen dem Zuhörer ständig den Eindruck zu vermitteln, dass er nicht umsonst wartet. Deshalb gibt es ständig die Ansage: Die nächste freie Telefonleitung gehört Ihnen. Es wird außerdem der Versuch unternommen, den Leuten die Wartezeit mit Musik angenehmer zu machen. Damit versucht man den Wartenden die Zeit zu vertreiben und ihnen die ständige Versicherung zu geben, dass sie nicht vergessen wurden. Das ist natürlich ein großes Problem beim Telefon. Beim Bäcker sehen Sie, ob es weiter geht. Diese Kontrolle haben Sie am Telefon nicht. Man muss es Ihnen künstlich immer wieder mitteilen.
Viele Befragte haben mir erzählt, dass ein Mitwartender ein Leidensgenosse ist. Mit dem kann man sich unterhalten, das Leid teilen und sich gegenseitig beschweren, das nimmt auch Druck weg. Mitwartende, die man persönlich kennt, können sehr positiv sein. Der Fremde ist vielleicht eher ein Konkurrent. Wenn ich weiß, es sind schon viele Leute im Zug und er ist immer überfüllt, muss ich schauen, dass ich als Erster in den Waggon kommen. Da kann es ein zusätzlicher Stressfaktor sein, wenn mehrere Mitwartende da sind.
Es gibt eine Pause im Alltag, als Vorbereitung auf eine neue Situation. Wenn man es abstrakt sieht, kann es uns auch dazu bringen, unsere Ansprüche ans Leben zu hinterfragen. Und damit die Vorstellung, dass wir in jeder Situation Herr der Lage sein wollen und immer genau wissen wollen, wann was passiert. Wir leben mit vielen anderen Menschen zusammen, von deren Handlungen wir abhängen, und die können wir nicht immer kontrollieren. Das ist auch gut so. Wenn wir auf dieser Ebene darüber nachdenken, können wir auch gelassener werden, wenn etwas mal nicht nach Plan läuft.
Andreas Göttlich ist gebürtiger Konstanzer und hat 1992 sein Studium an der Universität Konstanz in den Bereichen Soziologie und Philosophie begonnen. Im Anschluss an seine Promotion war er Teil verschiedener Forschungsprojekte. Zwischenzeitlich war er auch als Dozent tätig. Seit 2014 widmet sich der 47-Jährige ausschließlich den Forschungen zum Alltagsphänomen Warten.